Der Herr der Meerenge

Ein Experte für internationale Politik und Kosmopolit frönt in Istanbul seinem Hobby: Shipspotting. Seine Fotos – meist russischer – Militärschiffe in sozialen Medien machen ihn zum Aktivisten

An diesem Morgen sit es der Lodos, ein nordafrikanischer Wind, der warme Luft und Wasser zum Bosporus bringt. Die Sonne steht noch tief über dem asiatischen Kontinent und bricht sich in tausend Grau- und Blauschattierungen im Himmel wie im Meer. Eine Welle schwappt ans Ufer, Gischt spritzt auf, Möwen kreischen. Ein Containerschiff gleitet lautlos vom Schwarzen Meer kommend Richtung Süden. „Auf dem Weg nach Port Said“, sagt Yörük Işık. „Von dort aus wahrscheinlich weiter Richtung Pakistan.“

Er trägt eine alte Fleecejacke und an den Fingern abgeschnittene Wollhandschuhe. Seine kleine Umhängetasche ist mit Aufnähern gepflastert wie eine Rockerkutte: ein Abzeichen der Sechsten Flotte der US-Navy (ein persönliches Geschenk der Flotte), dann das Maskottchen der amerikanischen Seestreitkräfte vor Japan, ein Sticker der Universität Helsinki – Stationen seines Lebens. In der Umhängetasche befindet sich seine Kamera mit starker Linse und ein Fernglas. Yörük Işık ist freundlich und witzig, aber auch ein Walross von Mensch, breit, massiv – ein Körper, der nicht leicht in Bewegung zu setzen ist. Doch die Welt kommt zu ihm, sie schwimmt durch den Bosporus, und er fotografiert die Welt. Işık ist ein Shipspotter.

Wie Trainspotter Züge und Planespotter Flugzeuge beobachten, so hält ein Shipspotter nach Schiffen Ausschau, meist nach bestimmten Modellen, in Işıks Fall sind es russische Militärschiffe. Jeden Tag von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang sucht er auf dem Bosporus nach ihnen. An guten Tagen erwischt er ein, zwei oder sogar drei, an schlechten keines. Erwischen bedeutet in diesem Fall: ein Foto machen, das Foto auf Twitter, Facebook und Seiten wie MarineTraffic.com hochladen.

Mit seinen Beobachtungen ist er immer wieder in den Nachrichten. Işıks Shipspotting ist eine Mischung aus Jagdtrieb, Obsession, Liebe zum Wasser und Lust an der Vierten Gewalt, an der publikativen Macht. „Mein Shipspotting ist ein Spiegel internationaler Beziehungen, von dem, was politisch gerade auf der Welt geschieht“, sagt er. „Ich bin der Erste, dem aufgefallen ist, dass die Russen zivile Schiffe nutzen, um Waffen zu transportieren.“

Die Fähre legt an. Männer springen vom Schiff, machen es mit Tauen fest. Passagiere steigen aus, steigen ein. Işıks Patrouille beginnt. Das Meer in Istanbul ist eine wilde Straße, auf der ihn das Schiff zum nördlichen Ende bringen wird, dort, wo sich der schmale Wasserweg jäh ins Schwarze Meer öffnet.

„Für Shipspotter gibt es keinen besseren Ort als diesen“, sagt Işık. Der Sueskanal? Sperrgebiet – Beobachtung unmöglich. Der Panamakanal – künstlich, zu klein. Gibraltar? Zu breit, aber immerhin, dort sitzen Freunde von ihm, alte britische Marinesoldaten, die sofort erbost Meldung machen, wenn ein spanisches Schiff zu nahe kommt. Nur der Bosporus ist so schmal, 700 Meter an seiner engsten Stelle, dass ihn ein Mann mit bloßem Auge überwachen kann, und gleichzeitig mit 30 Kilometer lang genug, um Entdeckungen zu machen. „Die Handelskriege zwischen Russland und der Türkei, die Präsenz der Amerikaner im Schwarzen Meer, um ihre Nato-Alliierten zu unterstützen, Russlands Versuch, im Nahen Osten eine größere Rolle zu spielen – all das geschieht mitten in dieser Stadt auf dem Bosporus.“

Gestern Abend hat ihn eine SMS eines Freundes erreicht: „Die ‚Admiral Grigorowitsch‘ hat Sewastopol um elf Uhr mittags verlassen.“ Das Schiff gehört zur russischen Schwarzmeerflotte und ist unterwegs Richtung Syrien. „Das bedeutet“, sagt Işık, „dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit noch heute in den Bosporus einfahren wird.“ Die Männer lösen die Taue, Gischt sprudelt, die Fähre verlässt Beşiktaş Richtung Norden, Schwarzes Meer.

Seit 1923, der Gründung der türkischen Republik, sind die Meerengen vom Bosporus bis zu den Dardanellen internationalisiert. Die Türkei hatte die geopolitische Rolle des Osmanischen Reiches verloren, Moskau dagegen sein Ziel erreicht: freie Zufahrt ins Mittelmeer. Im Vertrag von Montreux 1936 erlangte die Türkei die staatliche Souveränität über die Wasserstraße zurück, verpflichtete sich aber, freie Durchfahrt für Handelsschiffe zu garantieren. Zugleich wurde die Tonnage fremder Kriegsschiffe im Schwarzen Meer vertraglich begrenzt. Das sind die Regeln: Die Durchfahrt von Kriegsschiffen muss acht Tage vorher mitgeteilt werden. U-Boote müssen auftauchen. Schiffe von Nichtanrainern dürfen maximal 21 Tage im Schwarzen Meer bleiben. U-Boote und Flugzeugträger von Nichtanrainern dürfen nicht passieren.


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mare No. 127

April / Mai 2018

Von Philipp Mattheis, Rena Effendi und Yörük Isik

Philiipp Mathheis, Jahrgang 1979, lebt als Korrespondent seit zwei Jahren in Istanbul in einer Wohnung mit Bosporusblick. Noch faszinierender als Schiffe aber sind für ihn die Delfine, die im Frühjahr und Sommer durch die Meerenge schwimmen.

Rena Effendi ist 1977 in Baku, Aserbaidschan, geboren. Sie lebt als freie Fotografin in Istanbul und kennt sich aus mit langen Strecken, die geopolitische Bedeutung besitzen. In mare No. 67 dokumentierte sie den Verlauf der Ölpipeline vom Kaspischen Meer zum Mittelmeer.

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Vita Philiipp Mathheis, Jahrgang 1979, lebt als Korrespondent seit zwei Jahren in Istanbul in einer Wohnung mit Bosporusblick. Noch faszinierender als Schiffe aber sind für ihn die Delfine, die im Frühjahr und Sommer durch die Meerenge schwimmen.

Rena Effendi ist 1977 in Baku, Aserbaidschan, geboren. Sie lebt als freie Fotografin in Istanbul und kennt sich aus mit langen Strecken, die geopolitische Bedeutung besitzen. In mare No. 67 dokumentierte sie den Verlauf der Ölpipeline vom Kaspischen Meer zum Mittelmeer.
Person Von Philipp Mattheis, Rena Effendi und Yörük Isik
Vita Philiipp Mathheis, Jahrgang 1979, lebt als Korrespondent seit zwei Jahren in Istanbul in einer Wohnung mit Bosporusblick. Noch faszinierender als Schiffe aber sind für ihn die Delfine, die im Frühjahr und Sommer durch die Meerenge schwimmen.

Rena Effendi ist 1977 in Baku, Aserbaidschan, geboren. Sie lebt als freie Fotografin in Istanbul und kennt sich aus mit langen Strecken, die geopolitische Bedeutung besitzen. In mare No. 67 dokumentierte sie den Verlauf der Ölpipeline vom Kaspischen Meer zum Mittelmeer.
Person Von Philipp Mattheis, Rena Effendi und Yörük Isik