Der Herder-Effekt

Wenn wir ratlos oder in dunkler Stimmung nach Kraft und ­Zu­versicht suchen, fahren wir bevorzugt ans Meer. Warum nur?

Der Zufall führte mich VOR EINIGER ZEIT in die portugiesische Kleinstadt São Martinho do Porto, wo ich ebenso zufällig die deutsche Auswanderin Gaby traf, die zufallsbedingt vor drei Jahren dorthin geraten war. São Martinho liegt zwölf Kilometer südlich von Nazaré an der Atlantikküste, zählt 3000 Einwohner und ist nicht weiter beeindruckend. Wir fuhren zum Mirador hinauf, dem kegelförmigen Aussichtshügel, von dem aus man Stadt, Bucht, Strand, Meer und Horizont ideal überblicken konnte. „Was ist das?“, habe sie sich, als sie vor drei Jahren zum ersten Mal genau hier gestanden hatte, gefragt. Und dann, mehr oder weniger aus dem Nichts, sagt sie heute, habe sie diese „Vibes“ gespürt und gewusst: „Hier will ich sein, hier will ich mein zweites Leben beginnen.“

Gaby Wehle war 66, als sie kurzerhand von Königstein im Taunus nach São Martinho do Porto zog, um dem Ruf des Meers, der sie wider Erwarten ereilt hatte, ohne Umschweife zu folgen. Irgendetwas muss damals auf dem Mirador mit ihr geschehen sein, etwas Umstürzendes und Reinigendes zugleich. Offenbar hatte das Meer eine enorme Wirkung auf sie, und offenbar besitzt das Meer, egal welches, zu jeder Zeit die Eigenschaft, Leben zu verändern, Lebensentwürfe zumindest neu zu justieren oder das Ich in Gefilde zu erweitern, wo es noch nie war. 

Wenn wir in Phasen der Ratlosigkeit oder seelischen Verschattung darüber nachdenken, was uns wohltun, trösten, heilen, gar glücklich machen könnte, was uns Kraft, Hoffnung und Zuversicht gibt, beschließen wir fast immer, ans Meer zu fahren. Warum? Weil Wasser, wie der antike Philosoph Thales von Milet um 600 vor Christus erkannt hatte, das ­Prinzip aller Dinge ist? „Aus Wasser ist alles, und ins Wasser kehrt ­alles zurück“, notierte er, und wenn der Satz stimmt, hat jeder Mensch an sich eine existenzielle Beziehung zum Wasser vulgo Meer. 

Meist ist ja das Paradies nicht weit entfernt, denn überall dort, wo Archäologen den biblischen Garten Eden vermuten, sind Wasser oder Meer zumindest in der Nähe: der Fluss Gihon, die Region Euphrat und Tigris im Fruchtbaren Halbmond zwischen Irak und Ägypten und der Persisch-Arabische Golf am südlichen Iran. Meer ist Anfang und Ende, Paradies und Hölle. Auch die größte Angst der Menschen verband sich ja immer schon mit Wasser: der alles Leben mit sich reißenden Sintflut, der, glaubt man rechtschaffen an den Schöpfer, bald, sehr bald die güldene Herrlichkeit auf Erden folgen werde.

Folgerichtig stach vor 254 Jahren in Riga, heute Lettland, ein deutscher Domschullehrer in See, um sich selbst zu entkommen. „Ich gefiel mir nicht“, notierte der junge Mann damals, weder als Gesellschafter noch als Schullehrer noch als Bürger. Der Mann heißt Johann Gottfried Herder und gilt heute als einer der größten Naturphilosophen der deutschen Sturm-und-Drang-Zeit. Mit 24 Jahren besteigt Herder am 25. Mai 1769 ein niederländisches Segelschiff, um „ich weiß nicht, wohin“ zu geraten. Letztlich gerät er zu sich. Auf seiner langen Reise über Kopen­hagen und Helsingör ins französische Nantes, auf dem „weiten Ozean“ unter einem Mast sitzend, durch Seeluft oder infolge der „Einwirkung von Seegerichten“ beschwingt, fühlt sich Herder von den einschnürenden Tugenden des städtischen Patriziats befreit, lässt seinen kasernierten Geist ausschwärmen und wird, wie er bemerkt, zum Philosophen. „Was gibt ein Schiff, das zwischen Himmel und Meer schwebt, nicht für weite Sphäre zu denken! […] Auf der Erde ist man an einen toten Punkt angeheftet […] wie enge und eingeschränkt endlich der ganze Geist.“

Dem plötzlich unbeschränkten Geist des schiffsreisenden Philosophierenden offenbaren sich Gedanken über Moral und Erziehung, die er nie zuvor gehabt hat, vor allem anderen aber entdeckt Herder die Lehre der Meere. Sie lautet: Das Meer ist so universal wie universell. Weder gibt es das kurische, dänische noch das norwegische, englische oder französische Meer – Meer ist Meer, immer ein und dasselbe. Und überall ist es es selbst. Sich verstellen, werben, überzeugen hat ein Meer nicht nötig. 


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mare No. 159

mare No. 159August / September 2023

Von Christian Schüle

Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in München und Wien und lebt als literarischer Autor und Essayist in Hamburg. Zu seinen Büchern zählen der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die Essays „Heimat“, „In der Kampfzone“ und „Vom Glück, unterwegs zu sein“, eine Philosophie des Reisens. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in München und Wien und lebt als literarischer Autor und Essayist in Hamburg. Zu seinen Büchern zählen der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die Essays „Heimat“, „In der Kampfzone“ und „Vom Glück, unterwegs zu sein“, eine Philosophie des Reisens. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
Person Von Christian Schüle
Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in München und Wien und lebt als literarischer Autor und Essayist in Hamburg. Zu seinen Büchern zählen der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die Essays „Heimat“, „In der Kampfzone“ und „Vom Glück, unterwegs zu sein“, eine Philosophie des Reisens. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
Person Von Christian Schüle