Der große Graben

Angenommen, der Atlantik wäre ausgetrocknet. Eine märchenhafte Reise nach Amerika

Am 1. Februar 1829 erreichte die Gruppe von Hanns-Hagen von Salzmann bei Nouakchott den Westrand der Sahara, 1200 Kilometer nördlich vom Äquator. Eine bleierne Hitze lag über der Stadt, die mauretanische Sonne brannte wie eine Flamme.

Sie waren zu viert: der Ethnologe Hamdi Hassan aus Kairo, der Oxforder Geologe John Heskin, Dschiwan Gasparian, armenischer Religionswissenschaftler aus New York, und Hanns-Hagen von Salzmann, Finanzier, Organisator und Leiter der Expedition.

Von Salzmann war 50, ein eiserner Preuße mit ererbtem Grundbesitz, Wappen, klassischer Bildung und einem Sack voller Gewissheiten und Vorurteile. In Damaskus hatte er aramäische Manuskripte studiert, in Ägypten Ruinen gezeichnet, in Tibet goldene Buddhas vermessen. Jetzt wollte er die Atlantische Senke durchqueren, das Land auf dem Grund des trockengefallenen Ozeans, der einst Europa und Afrika von Amerika trennte.

Die Enttäuschung der Gruppe beim Anblick Nouakchotts war groß. Die Stadt war nichts als ein Lager gestrandeter Nomaden, ein Haufen in die Wüste gewürfelter Lehmhäuser mit lapislazuliblauen Wänden und nachtschwarzen Palmholztüren. Im Norden, Süden und Osten zerfaserte alles in planlos verstreute Zelte aus Lumpen, umzingelt vom Sand. Wie urzeitliche Reptilien belagerten die Dünen die Ränder der Ansiedlung. Im Westen aber war die Welt zu Ende. Vor Nouakchott fiel Afrika ins Nichts. Wie ein gigantischer Katarakt aus rauchendem Sand stürzte die Sahara in den Atlantischen Graben.

Dieses Niemandsland wollte von Salzmann durchqueren. Zu Fuß und mit Dromedaren, von Nouakchott in genau westlicher Richtung durch Sand- und Steinwüste, vorbei an den Kapverdischen Vulkankegeln, dann westsüdwestlich über die Pässe des mittelatlantischen Gebirgsrückens und schließlich in südsüdwestlicher Richtung auf die Berge unter dem Wind zu. An den Fällen des Orinokos wollte von Salzmann südamerikanischen Boden betreten. 4600 Kilometer hatte er veranschlagt und dafür 102 Tage angesetzt. Tag für Tag 45 Kilometer oder exakt 54 000 Von-Salzmann-Schritte. Der erste Teil seiner Route sollte den Spuren von Ibn Battuta folgen. Der Marco Polo aus Tanger war im 14. Jahrhundert in den Graben vorgedrungen.

In den dreckigen Gassen Nouakchotts wimmelte es von Menschen: Araber, Tuareg, Swahilis, Fulbe, Bambara und Wolof, Inder und Weiße. Ausgemergelte Hunde dösten im Schatten, halbverhungerte Katzen lungerten auf Dächern herum. Dromedare, Esel und Ziegen bahnten sich ihren Weg durch den Schmutz. Händler priesen ihre Waren an, und Bettler stellten ihre Gebrechen aus. Ein babylonischer Lärm füllte die Luft, von den Minaretten schrien die Muezzine, und über der Stadt nistete ein Gestank wie von flambiertem Aas.

Der Führer der Gruppe hieß Abdelaziz-Abderrahman-Ben-Halim-Hassan-Al-Hussein. Abdelaziz stammte aus Timbuktu. Der Titan der Sahara hatte das Sandmeer schon zweimal von Nord nach Süd durchquert. Dolmetscher war Janis Yakthibos. Wie Abdelaziz galt der Grieche als Mann, der es mit jeder Strapaze aufnehmen konnte, und es hieß, er beherrsche neun Sprachen.

Das Café Atlantique, wo von Salzmann die beiden treffen sollte, war berstend voll. Es roch nach schwarzem Tabak und grünem Haschisch. In einer Ecke hockten Abdelaziz und Yakthibos. Der Führer war lang und schwarz wie ein Schatten am Abend, seine blaue Toga über der Schulter geknotet. Er hatte das Gesicht eines Mörders und die Pranken eines Schlächters. In Wahrheit aber war er sanft wie ein Lamm und geduldig wie eine Holzpuppe. Neben ihm saß der Dolmetscher und schlürfte Tee. Sein Gesicht war eingeschrumpft. Er sah aus wie ein gehäuteter Affe. Yakthibos misstraute jedem in der Stadt. Dabei war er selbst ein unberechenbarer Lügner.

Wie alles in seinem Leben hatte von Salzmann die Expedition präzise geplant. Swahilis hatte er ihre Wasserschläuche abgeschwatzt. Sie waren aus dreijährigem Ziegenleder, und in ihnen blieb Wasser viele Tage frisch. An alles hatte der Preuße gedacht: Flinten mit gezogenem Lauf, Literflaschen mit Rosenöl, Tuchballen, Glasperlen, Bücher und Himmelskarten, Kisten mit Büchsenfleisch, Zigarren und Kaffee, ein metergroßes Holzkruzifix, Chronometer, Sextanten, zwei Barometer, ein Teleskop, ein Taschenpedometer für die Schrittzahl. Daneben: Chinin, Opium, Haschisch, 92 Flaschen Wein. Und ein Harmonium. Auf ihm wollte er beim Anblick des Orinokos „Toccata und Fuge in d-Moll“ von Johann Sebastian Bach spielen. Dreieinhalb Tonnen wog die Ausrüstung, verteilt auf zwölf Dromedare und 24 schwarze Träger, Desperados allesamt.

Von Salzmann war nicht der erste, der in den Graben zog. Die Spuren der Reisenden reichen bis zu den ältesten Geographen. Die Ammon-Priester der Pharaonen sprachen von einem „löchrigen Meer, grün wie der Nil in der Sommerhitze“. Es besteht kein Zweifel, daß die Ägypter ihrem Sonnengott auf seinem Weg nach Westen folgten und die Senke erreichten.

Homer berichtete vom „unermesslichen Graben“, von Wannen salzigen Wassers, in denen Zyklopen badeten, und von sturmumtosten Gipfeln, wo die Schwestern der Medusa mit den Winden um die Wette heulten. Herodot hielt den großen Graben für undurchquerbar, für das Tor zum Hades. „Das Land hat sich vom Himmel herabgesenkt“, schrieb er, „aus dem Meer ist eine neue Welt aufgetaucht.“ Platon vermutete mitten in der Senke, umgeben von dampfender Vegetation, die Stadt der Halbgötter: das siebzigtorige Atlantis. Plinius der Ältere besiedelte das einstige Meer mit „Harpyien und Basilisken“, „Vipern und Gewürm ohne Zahl“.

Erst im Jahre 915 findet sich wieder ein Bericht. Auf der Suche nach den Grenzen der Erde drang Al-Masudi, Geograph aus Bagdad, in die Senke vor. „Jenseits des Grabens“, träumte er, „liegt die Welt der Glückseligen.“ Einen genaueren Bericht lieferte Ibn Battuta. 1332 wagte er sich vom Westrand der Sahara aus in die Senke, fand eine ägyptische Schminkdose und Bernstein. Das versteinerte Harz hielt er für mit Salz zusammengebackenen Wasserschaum, Beleg für das einstige Meer.

In den folgenden Jahrhunderten erschlossen die Europäer China und das Herz Afrikas. Sie entdeckten auf dem östlichen Weg Amerika, die andere Seite des Grabens. Landmassen und Ozeane wurden vermessen und kartographiert. Doch das Innere der Senke blieb ein Geheimnis. Und die Phantasie füllte den weißen Fleck zwischen den Kontinenten mit tausend Monstrositäten: Riesen, Dschinns, Menschenfresser. Schwarze und Araber mieden den Graben. Und ihr Mahdi Ali Ben Hussein, der darauf beharrte, dass die Welt eine Scheibe auf dem Rücken einer Schildkröte sei, hatte sie gewarnt: „Wollt ihr hinunterstürzen in die siedende Hölle, dürstet euch nach der männerfressenden Spalte?“

Nun stand von Salzmann am Rand der Senke. Die Bewohner Nouakchotts erzählten wirre Geschichten über die fiebrige Hitze, Geisterstädte und Dämonen. Der Religionsgelehrte Gasparian und der Ethnologe Hassan sprachen von „archaischen Mythen“. Von Salzmann knurrte nur: „Kolossales Geschwätz!“ Heskin war mit seinen Steinen beschäftigt.

Die Nacht vor dem großen Marsch verbrachte die Gruppe im Funduk Zum Graben. Das Hotel war baufällig, Armeen von Wanzen bevölkerten die Betten. Die Reisenden fluchten und kratzten sich, bis mit den Schreien der Muezzine die Sonne über die Dünen kroch.

Am 2. Februar brach die Expedition auf. Abdelaziz führte, und die Dromedare folgten im Gänsemarsch, flankiert von den Trägern, die mürrische Gesichter schnitten. Am Ende der Karawane gingen von Salzmann, seine drei Begleiter und der Grieche. „Ihr rennt ins Nichts!“ brüllte ein baumlanger Tuareg, ganz in Blau gewandet und auf einen Speer gestützt. Dann lachte er wie ein Irrsinniger.


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mare No. 1

No. 1April / Mai 1997

Von Walter Saller

Walter Saller, 1956 geboren, studierte Arabisch und Religionswissenschaft. Er lebt als freier Autor in Berlin.

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Vita Walter Saller, 1956 geboren, studierte Arabisch und Religionswissenschaft. Er lebt als freier Autor in Berlin.
Person Von Walter Saller
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