Der Gärtner einer Zeit

In der Kargheit der weiten Kiesebenen von Dungeness an Englands Südküste, in der Nachbarschaft eines Atomkraftwerks, legte der britische Filmemacher Derek Jarman einen Garten an, der voller Poesie und herber Schönheit ist

Vor unendlich langer Zeit war die Natur einer Laune gefolgt und hatte die größte Kiesfläche der Welt geschaffen. Sie hatte die Steine mit gelben und grauen Flechten geschmückt, hatte am Strand lange Linien von Meerkohl gesät und das Geschrei von Möwen und Krähen in den Himmel gehängt. Gräser und Ginster hatten nach und nach den Kies begrünt; der mit salziger Gischt getränkte Westwind hatte alles andere Gewächs verbrannt. Lange war es so geblieben, bis die ersten Menschen auf die Insel kamen, die sie später einmal England nennen würden. Sie begannen, die Fische aus dem Meer zu fangen und die Beeren vom Wacholder zu pflücken. In Kreisen stellten sie Steine auf und beteten die Sonne an. Bald führten sie Kriege und pflanzten Gärten mit Heilpflanzen, die Wunden zu beträufeln und das Fieber zu senken. Mönche aus Irland erschienen und vertrieben die alten Götter. Die Jungfrau in einem blauen Mantel brachten sie mit und einen schönen jungen Mann, der am Kreuz gefoltert worden sei.

Edle Familien begannen zu herrschen über das Landvolk; Eadulf of Bernicia gab dem Clan der Swintons hoch im Norden ein Lehen, der ältesten Familie des Landes. Reiche erstarkten und erstarben. In den Kirchhöfen pflanzte man Eiben auf die Gräber, die immergrünen Bäume mit den roten Beeren, die 1000 Jahre alt werden. In den Klöstern formten die Mönche aus Buchs und Heiligenkraut Bänder und Kugeln, um ihre Gärtchen zu schmücken. Könige und Königinnen bestiegen den Thron und starben; Krieg um Krieg zog über das Land. Flieger erschienen am Himmel, Bomben fielen, die Welt war in Brand.

Am 31. Januar des Jahres 1942 gebar die Frau des Hauptmanns Jarman einen Sohn. Sie nannten ihn Derek, und er wuchs heran, ein stilles Kind, das stundenlang im Garten verweilen und die Blumen betrachten konnte. Das erste Buch für Erwachsene, das sie ihm mit fünf Jahren schenkten, hieß „Schöne Blumen und wie man sie zieht“. Aus dem Kind wurde ein Jüngling mit langen, zartgliedrigen Händen, der sich verliebte. Nicht in ein Mädchen, in den Flieger Johnny, der ihn hinter sich auf sein Motorrad setzte und zum verlassenen Haus am Ende des Dorfes fuhr. Derek vergrub seine Hände in Johnnys Taschen, und im Garten des Hauses blühte die Spornblume. Seither ist die Spornblume für ihn eine sexy Pflanze.

Er ist 18 Jahre alt, als dem ehrwürdigen alten Clan der Swintons eine Tochter geboren wird: Katherine Matilda. Und er ist 24, als in einer Bergarbeiterstadt im Norden der kleine Keith zur Welt kommt. Aus Katherine Matilda wird Tilda werden, Kobold, Muse und Anima des Filmemachers Derek Jarman, die Frau in seinen Bildern und in seinen Gedanken, die Frau, die für ihn Madonna, Königin und Mutter sein wird, eine Geliebte, ohne dass er je mit ihr geschlafen hätte. Aus der schlaksigen jungen Adeligen mit dem androgynen Körper wird der Filmstar Tilda Swinton. Aus dem Jungen Keith wird der Schauspieler Keith Collins, ein überirdisch schöner Mann mit dunkelbraunen Haaren und mandelförmigen grünen Augen, die lange schwarze Wimpern immer leicht verschleiern. Derek wird ihm bei einem Filmfestival begegnen und sich unsterblich in ihn verlieben. Keith wird der letzte Mann sein, mit dem er leben wird, der ihn wird sterben sehen. Keith ist der Erbe und Gärtner von Prospect Cottage, dem Fischerhäuschen, das er mit Derek gekauft und renoviert hat, wo sie gelebt haben.

Es ist ein Mai in den frühen achtziger Jahren, die Hasenglöckchen blühen, und Derek sucht einen Wald mit diesen magischen blauen Blumen. Er will Tilda darin filmen, mit seiner Super-8-Kamera. Die Szene wird in einem seiner Filme kurz aufscheinen, drei Sekunden, die Zeit zwischen zwei Lidschlägen, die Dauer der Gegenwart. Sie suchen und finden diesen Wald zu dritt, Derek, Tilda und Keith, in Kent, der lieblichen Grafschaft zwischen London und der Küste am Kanal. Immer weiter Richtung Süden fahren sie danach, bis die grünen Hügel in die unendliche Kiesebene von Dungeness übergegangen sind und sich das Meer vor ihnen ausbreitet. Nichts als Steine und Wasser; seit es Menschen gibt, haben sie dieses selbe Bild gesehen. Auf einer schmalen Piste fahren sie am Strand entlang, vor sich den alten und den neuen Leuchtturm von Dungeness und das Steingebirge des Atomkraftwerks. Das Schild an dem schwarz geteerten Fischerhäuschen sieht Tilda zuerst: „Da, das ist zu verkaufen! Halt an!“ Die Tür öffnet eine ältere Frau und beantwortet mit einer unwahrscheinlichen Stimme ihre Fragen, blechern, tief und krächzend wie ein Roboter aus einem Film der fünfziger Jahre: „Nein, das Atomkraftwerk ist harmlos, wir haben hier 30 Jahre lang gelebt, und es hat uns nicht geschadet.“ Keith bekommt einen Lachkrampf und muss sich wegdrehen. Derek bleibt ernst und kauft das Haus. Peggy, der Android, hat es eilig zu verkaufen und zieht aus.

Alles in dem schwarzen Häuschen ist nett, ordentlich und pink. Sie reißen die Gipswände heraus und finden unter dicken Lagen von Tapeten die alten Holzvertäfelungen. Den Namen behalten sie bei: „Prospect Cottage“; es bringt Unglück, ihn zu ändern, wie bei einem Schiff. Das Fischerhäuschen wird der Fluchtort für Derek Jarman, der hier schreibt, filmt und der Hektik der Hauptstadt entkommt, der hier seine Freunde um sich schart und der als „Saint Derek of Dungeness“ zum Schutzpatron der englischen Schwulenbewegung und des Kampfes gegen Aids wird. Seinen persönlichen Kampf gegen die Krankheit wird er verlieren; noch hat die Medizin den Pillencocktail nicht erfunden, der das Überleben sichern kann. Noch sind die Tage am Meer nicht überschattet vom Wissen um seine eigene Infektion, noch ist Aids erst die Krankheit von Freunden, Bekannten, Fremden.


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mare No. 76

No. 76Oktober / November 2009

Von Hansjörg Gadient und Howard Sooley

Hansjörg Gadient, 1962 in Davos geboren, ist Architekt, Landschaftsarchitekt und Kulturjournalist. Seine Leidenschaft gilt den Gärten, auch wenn er in mare über lächelnde tote Haie und Möbel aus Rochenhaut geschrieben hat.

Howard Sooley, in London lebender Fotograf, machte die Bilder zu Derek Jarmans letztem Buch Derek Jarman’s Garden. Seine Fotografien waren auch in der Londoner Tate Gallery of Modern Art zu sehen.

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Vita Hansjörg Gadient, 1962 in Davos geboren, ist Architekt, Landschaftsarchitekt und Kulturjournalist. Seine Leidenschaft gilt den Gärten, auch wenn er in mare über lächelnde tote Haie und Möbel aus Rochenhaut geschrieben hat.

Howard Sooley, in London lebender Fotograf, machte die Bilder zu Derek Jarmans letztem Buch Derek Jarman’s Garden. Seine Fotografien waren auch in der Londoner Tate Gallery of Modern Art zu sehen.
Person Von Hansjörg Gadient und Howard Sooley
Vita Hansjörg Gadient, 1962 in Davos geboren, ist Architekt, Landschaftsarchitekt und Kulturjournalist. Seine Leidenschaft gilt den Gärten, auch wenn er in mare über lächelnde tote Haie und Möbel aus Rochenhaut geschrieben hat.

Howard Sooley, in London lebender Fotograf, machte die Bilder zu Derek Jarmans letztem Buch Derek Jarman’s Garden. Seine Fotografien waren auch in der Londoner Tate Gallery of Modern Art zu sehen.
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