Der Freiheitskämpfer

Ein buddhistischer Mönch in China rettet Millionen von Meerestieren vor dem Tod im Kochtopf. Mit dem uralten Ritus rettet er zugleich die Seelen der zahllosen Spender, die sein Tun finanzieren

An dem Tag, als er nach eigenen Angaben 470 000 Leben rettete, verstauchte sich der Mönch seinen Fuß. An Deck war es nass, Wellen peitschten gegen die Reling. „Bei Windstärke acht legen wir aber an“, hatte der Fischer noch gemahnt, im nächsten Moment lag der Mönch im Bassin mit den Tigergarnelen. Einige zerquetschte er dabei zu Brei. „Amituofo“, seufzte der Mönch, eine Art buddhistisches Amen, und sprach seinen letzten Segen. „Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen“, tröstete ihn der Fischer.

Die toten Garnelen grämen ihn immer noch, für den Mönch zählt jede einzelne. „Jedes Tier kann dein Vater oder deine Mutter gewesen sein. Jedes kann ein künftiger Buddha sein.“ So stehe es sinngemäß in der heiligen Schrift Brahmasutra. „Heute isst du die Garnele“, sagt er, „morgen wirst du als Garnele wiedergeboren, und andere werden dich essen.“

„Fangsheng“ heißt das alte buddhistische Ritual, chinesisch für „Leben freilassen“. Eines der ersten Gebote Buddhas lautete, ähnlich wie im Christentum: Du sollst nicht töten. Ein weiteres: Verlängerst du das Leben eines Tieres, verlängerst du auch dein eigenes. In einer seiner früheren Inkarnationen sei Buddha, so erzählt man sich, ein reicher Kaufmann gewesen, der viele tausend Fische vor dem Tod bewahrte. Hilflos zappelten sie in einem ausgetrockneten Teich, als Buddha nach 20 Elefanten befahl, um Wasser herbeizuschaffen. Seither glauben Buddhisten vor allem in China, aber auch in Nepal und Japan, dass Tiere freizulassen nicht nur den Weg zur Erleuchtung ebnet, sondern auch ein gutes Karma einbringt.

Heute, da immer mehr Chinesen den Buddhismus wiederentdecken, ist der Brauch verbreitet wie nie. Jedes Jahr werden Hunderte Millionen Tiere in die Natur entlassen – Vögel, Schildkröten, Schlangen, Kaninchen, Mäuse und Fische, sogar Ameisen. Man trifft die barmherzigen Schüler Buddhas auf Fischmärkten wie auf der Parkwiese, unter Großstadtbrücken ebenso wie am Dorfkanal. Man begegnet ihnen in unzähligen Internetforen, wo es heißt: „Keiner im Land ist so barmherzig wie Meister Dao Gen.“

Meister Dao Gen, 43 Jahre alt, der Mönch, der um die Garnelen trauert, ist Geistlicher auf der berühmten Pilgerinsel Putuoshan, eine vierstündige Auto- und Fährfahrt südlich von Shanghai entfernt. Im Nebenberuf, könnte man sagen, ist er professioneller Artenschützer und Karmadienstleister. Tag für Tag kippt er zentnerweise gefangene Fische und Meerestiere, die in Kochtöpfen gelandet wären, zurück in die See. Gläubige aus ganz China unterstützen ihn mit Spenden und hoffen dafür auf Seelenheil. Er arbeitet mit Fischern und Frachtkapitänen zusammen, macht Großeinkäufe und vermarktet sich im Internet. Wäre er in der Wirtschaft, würde man sagen: Er leitet ein Millionenunternehmen.

Wie ein kleiner senffarbener Punkt huscht er an einem Dienstagmorgen durch die Pilgermassen vor seinem Kloster mit dem Namen „Violettfarbener Bambus“, eilt vorbei an dem dicken Kioskverkäufer mit den DVDs von Bodhisattvas, den populären Erleuchtungswesen, und dampfen- den Frühstücksständen, über Kopfsteinpflastertreppen durch den Kiefernwald, vorbei an den Wohnbaracken der Hafenarbeiter hinunter an den Steg.

Dort, wo er bunte Gebetsfahnen befestigt hat, wartet bereits die Gruppe aus Shanghai: 15 Männer und Frauen in teuren Outdoorjacken und mit ChanelTäschchen, 15 Unterstützer, Schüler und irgendwie auch Kunden. Als sie den Meister sehen, bilden sie ein Spalier. Dao Gen schreitet durch die Gruppe wie auf einem roten Teppich, ein kleiner Mann in großer Kutte, der bei jedem Schritt über seine Gummistiefel zu stolpern droht. Im Vorbeigehen begrüßt er die Pilger mit einer neunstelligen Zahl: seine Handynummer. „Folgt mir auf WeChat!“, Chinas WhatsApp, ruft er, dann legt er sich ein feier- liches rotes Übergewand um.

Heute ist der erste Tag im neuen Mondmonat; laut Buddha ein guter Tag, um Leben zu retten. Ein guter Tag, um Karma zu verdienen. Am Steg legt ein Lastkahn an, 28 Meter lang, 50 Tonnen schwer. Der Mönch packt Taschenrechner und Notizblock aus. „Wie viele haben wir?“ Die Frage gilt einem braun gebrannten Mann in Regenjacke und ausgelatschten Baumwollschuhen. „796 Kilogramm“, sagt Kapitän Ding. Normalerweise fährt Ding Baumaterial und Spielzeug übers Meer. Heute schwimmen Seezungen, Zackenbarsche, Meerbarben, Goldmakrelen, Heilbutte, Tintenfische, Aale, Tigergarnelen, Langusten, Königskrabben, Austern, Abalonen, Jakobsmuscheln, Scheidenmuscheln und Nagelrochen in sauber aufgereihten Plastikwannen. 796 Kilogramm Leben, Marktpreis zusammen umgerechnet 4500 Euro, gefangen in den Gewässern vor dem Festland. Um fünf Uhr früh war der Kapitän auf den Fischmarkt gefahren, um den Kahn vollzuladen. Jedes Kilogramm eigenhändig abgewogen, so hat es der Meister vorgeschrieben. Immerhin darf Dao Gen bei den Fischern anschreiben lassen. Man kennt sich. Er ist Stammkunde. 


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mare No. 122

No. 122Juni / Juli 2017

Von Xifan Yang und Liz Hingley

Xifan Yang, Jahrgang 1988, Redakteurin beim „SZ-Magazin“ in München, war überrascht, dass viele buddhistische Besucher auf Putuoshan nach der vollzogenen Fischrettungszeremonie ins nächstbeste Restaurant gehen und Fisch bestellen.

Für ihr Fotoprojekt „Shanghai Sacred“ suchte Liz Hingley, geboren 1985, Fotografin in London, im Internet nach neuen Themen und stieß in den sozialen Medien auf junge Buddhisten, die sich zum Fischefreilassen verabreden. Ihre Neugier war geweckt.

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Vita Xifan Yang, Jahrgang 1988, Redakteurin beim „SZ-Magazin“ in München, war überrascht, dass viele buddhistische Besucher auf Putuoshan nach der vollzogenen Fischrettungszeremonie ins nächstbeste Restaurant gehen und Fisch bestellen.

Für ihr Fotoprojekt „Shanghai Sacred“ suchte Liz Hingley, geboren 1985, Fotografin in London, im Internet nach neuen Themen und stieß in den sozialen Medien auf junge Buddhisten, die sich zum Fischefreilassen verabreden. Ihre Neugier war geweckt.
Person Von Xifan Yang und Liz Hingley
Vita Xifan Yang, Jahrgang 1988, Redakteurin beim „SZ-Magazin“ in München, war überrascht, dass viele buddhistische Besucher auf Putuoshan nach der vollzogenen Fischrettungszeremonie ins nächstbeste Restaurant gehen und Fisch bestellen.

Für ihr Fotoprojekt „Shanghai Sacred“ suchte Liz Hingley, geboren 1985, Fotografin in London, im Internet nach neuen Themen und stieß in den sozialen Medien auf junge Buddhisten, die sich zum Fischefreilassen verabreden. Ihre Neugier war geweckt.
Person Von Xifan Yang und Liz Hingley