Der Eiskönig von Boston

„Kein Witz!“, titelten die Zeitungen 1806. Frederic Tudor verschiffte Eis in die Tropen – der Anfang eines globales Geschäfts

Die kalte Fracht verlässt den Hafen am Morgen des 13. Februar 1806. Bei ablaufender Flut passiert der Segler „Favorite“ das Zollhaus von Boston Harbor. Auf der Brücke steht der Eigner des Schiffes: Frederic Tudor, ein kleiner, schmächtiger Mann, gerade 22 Jahre jung, getrieben von einer wahnwitzigen Geschäftsidee: gefrorenes Wasser übers Wasser zu transportieren. Eine Schnapsidee, wie viele sagen, geboren auf einer Cocktailparty im heißen Sommer 1805. Mit dem Blick auf ihre eisgekühlten Drinks hatten sich Frederic und sein Bruder gefragt, was die Menschen in der Tropenhitze der Karibik wohl für solch einen Luxus geben würden. Der Gedanke lässt Frederic nicht mehr los. Ein paar Monate später, an jenem Wintermorgen in Boston, notiert er: „Das Schiff ist bereit, und der Himmel leuchtet hell für das Gelingen des Planes.“

Hoffend und bangend beobachtet Frederics Vater William Tudor das Treiben, zusammen mit anderen Schaulustigen der 30 000-Seelen-Stadt Boston. Er ist ein angesehener Mann, Anwalt und Abgeordneter im Parlament von Massachusetts; die Bostoner nennen ihn the judge. Doch kürzlich hat er sich bei einem riskanten Landkauf verspekuliert, seine Familie an den Rand des Ruins gebracht, und jetzt wagt der Sohn das nächste Abenteuer. Selbst die „Boston Gazette“ titelt angesichts des unglaublichen Unternehmens höhnisch „Kein Witz!“ und prophezeit dem jungen Mann sein Scheitern.

Allein der geschmähte Händler unter dem Gaffelbaum des Zweimasters „Favorite“ vertraut seiner Ladung. Unter dem Deck der Brigg lagern 130 Tonnen glasklares Natureis, herausgebrochen aus dem Rockwood Pond, einem kleinen See auf dem Landgut seiner Familie nahe der Stadt. Vor Frederic Tudor liegen 20 Tage Seeweg in die Karibik. Tudor glaubt, dass sich die europäischen Kolonialherren dort nach Eis sehnen, und er weiß, dass die Ärzte in den Tropen verzweifeln, weil sie den an Gelbfieber Erkrankten keine Kühlung verschaffen können. Auf Martinique, hatte Tudors Bruder berichtet, dürfe Frederic seine erste Ladung Eis verkaufen. Wenn es sie dann noch gebe.

Am 5. März 1806 erreicht die „Favorite“ die Karibikinsel. Das verbliebene Eis verkauft sich in der französischen Kolonie bei einem Preis von 16 US-Cent je Pfund nur schleppend, obwohl die Blöcke die Passage „in perfect condition“ überlebt haben, wie Tudor später in Boston versichert. Doch die Temperaturen in Martinique sind höher als auf der Passage. Die zum Verkauf geöffneten Luken und das Abdecken der Isolierung beschleunigen den Prozess: Tudors Handelsgut schmilzt.

Es ist die Geburtsstunde des 100 Jahre währenden internationalen Seehandels mit Natureis, doch für Tudor ein mittleres Fiasko. Hoch verschuldet kehrt er heim. In Bostons Bürgerhäusern amüsiert man sich über den versponnenen Sohn des judge, der schon immer ein unbelehrbarer Eigenbrötler gewesen war. Mit 13 war er statt in die Schule lieber mit dem Hausdiener fischen gegangen. Trotzdem hatte der junge Tudor stets von einer großen Idee gesprochen, die ihn „unvermeidlich reich“ machen würde; ein Studium in Harvard betrachtete er als „verlorene Zeit“.

In Boston selbst gibt es dank der Eislager im Westen der Stadt bereits seit Jahrzehnten Erbauliches wie frische Butter, und sonntags vergnügt sich der Bostoner wie auf französischen Flaniermeilen mit einer zarten Waffel ice cream. Der Winterfrost, die frühe Besiedelung der amerikanischen Ostküste und die zahllosen Weiher und Seen von Neuengland machen Massachusetts und Maine zur Wiege der Natureisnutzung in den noch jungen USA, bald gefolgt von New York State.

Frederic Tudor hält sich nicht auf mit Klatsch und Schleckereien, er sucht ein größeres Schiff. „Wer schon nach dem ersten Rückschlag aufgibt“, schreibt Tudor auf den Deckel seines „Eistagebuchs“, „der war, ist und wird niemals ein Held sein, nicht in der Liebe, nicht im Krieg und nicht im Geschäft.“ Alsbald nimmt Tudor die Handelskorrespondenz mit Jamaika, Barbados, Guadeloupe, St. Thomas und anderen Karibikinseln auf. Anfang 1807 kann Tudor insgesamt drei Eisfrachten auf der Brigg „Trident“ nach Havanna schicken. Finanziell angeschlagen, muss Tudor die „Trident“ chartern. Keine leichte Aufgabe, denn „Händler waren nicht bereit, ihre Schiffe für den Transport von Eis zu vermieten“, schreibt sein Schwager später. „Die Agenturen lehnten die Versicherung ab, und die Seemänner hatten Angst, sich einer derartigen Fracht anzuvertrauen.“

Unheil bricht aus Washington herein, als Präsident Thomas Jefferson ein inter- nationales Seehandelsembargo über die Antillen verhängt. Immerhin kann Tudor seinen Handel auf die nationalen Routen verlagern und Skipper davon überzeugen, dass Eis ein besserer Ballast ist als Steine. Doch sein großes Geschäft liegt brach. Zum Warten verdammt, sucht Tudor am Rockwood Pond nach neuen Isoliermaterialien für die delikate Fracht, experimentiert mit zerriebener Holzkohle und weichem Torf. Mehrfach bringt ihn seine Insolvenz hinter Gitter, doch sein Wille ist ungebrochen. In der Zelle schreibt er: „Ich lächele bei dem Gedanken, dass jeder glaubt, ich sei geschlagen.“

Als Tudor die Havanna-Route wieder aufnehmen darf, ringt ihn auf Kuba das Gelbfieber nieder. Dennoch verkauft er 1810 vom Fieber geschüttelt Eis für 7400 US-Dollar auf der Zuckerinsel. Tudor ist der Erste, der Eis nach Kuba bringt. Die Oberschicht in Havanna ist entzückt von eiskaltem Rum, Eiscreme und frischer Butter. Erstmals erzielt Tudor einen kleinen Profit aus dem „frozen water trade“.


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mare No. 67

No. 67April / Mai 2008

Von Peter Korneffel

Peter Korneffel, Jahrgang 1962, schreibt aus Lateinamerika unter anderem für die Zeit und Geo Saison. In mare No. 49 schrieb er zuletzt über einen deutschen Havariekommissar in Cartagena an Kolumbiens Karibikküste.

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Vita Peter Korneffel, Jahrgang 1962, schreibt aus Lateinamerika unter anderem für die Zeit und Geo Saison. In mare No. 49 schrieb er zuletzt über einen deutschen Havariekommissar in Cartagena an Kolumbiens Karibikküste.
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Vita Peter Korneffel, Jahrgang 1962, schreibt aus Lateinamerika unter anderem für die Zeit und Geo Saison. In mare No. 49 schrieb er zuletzt über einen deutschen Havariekommissar in Cartagena an Kolumbiens Karibikküste.
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