Der Dichter im Strandkorb

Thomas Mann und das Meer

Die vielen Urlaube mit der Familie an der See, Venedig, das Ferienhaus bei Nidden an der Kurischen Nehrung, schließlich Pacific Palisades an der Westküste Kaliforniens: Das Meer wurde und blieb Lebensthema Thomas Manns auch aus biographischen Gründen. Dass der geborene Lübecker Zeit seines Lebens die Verbindung zum Meer suchte, daran änderten weder seine Übersiedlung nach München noch das Exil etwas. Kennzeichnend für die beiden berühmtesten Helden des Frühwerks, Hanno Buddenbrook und Tonio Kröger, ist ihre Liebe zum Meer: Der vierzehnjährige Tonio liebt es, müßiggängerisch und verloren im Sand zu liegen und auf die „geheimnisvoll wechselnden Mienenspiele“ zu starren, „die über des Meeres Antlitz huschen“. Der Urlaub des jungen Hanno in Travemünde wird zur Befreiung von der als Hölle erfahrenen Schule, zur vorweggenommenen Erlösung vom als beängstigende Qual erfahrenen Leben überhaupt: „Dieses zärtliche und träumerische Spielen mit dem weichen Sande, der nicht beschmutzt, dieses mühe- und schmerzlose Schweifen und Sichverlieren der Augen über die grüne und blaue Unendlichkeit hin, von welcher, frei und ohne Hindernis, mit sanftem Sausen ein starker, frisch, wild und herrlich duftender Hauch daherkam, der die Ohren umhüllte und einen angenehmen Schwindel hervorrief, eine gedämpfte Betäubung, in der das Bewusstsein von Zeit und Raum und allem Begrenzten still selig unterging …“

Die Stelle aus „Buddenbrooks“ lässt hervortreten, warum das Meer bei Thomas Mann zum zentralen poetischen Bild weit über den biographischen Hintergrund hinaus werden konnte. Die Rede vom Meer ist Verführung und Einladung für den Leser zunächst einfach deshalb, weil für viele Urlaub damit verbunden ist, also die Erfahrung der Freiheit von Zwang: Durchatmenkönnen, Nacktheit, Baden, Körperlichkeit.

Mit dem Meer verbindet sich für nicht wenige die Erinnerung an Kindheitsferien im Strandkorb an Nord- oder Ostsee, an die Entdeckung des Körpers, Pubertätserotik, insgesamt die Erfahrung einer Lockerung der sonst in Konventionen eingeschnürten Persönlichkeit, an Barfußlaufen, wie es im „Zauberberg“ heißt, „auf dem glatten, festen, gespülten und federnden Sandboden am Saume des Meeres“.

Bei Thomas Mann weitet sich diese Erfahrung des Urlaubs zur Erfahrung eines möglichen Urlaubs vom Leben überhaupt. Der Spaß am Baden wird als ein Flirt mit dem eigenen Untergang im Elementaren gedeutet, als „das Begeisterungsglück leichter Liebesberührungen mit Mächten, deren volle Umarmung vernichtend sein würde“.

Der Anblick des Meeres und seiner „Urmonotonie“ weckt die Sehnsucht nach einer Auflösung des Individuums in die elementare Gleichgültigkeit, nach einer Befreiung vom Schmerz der Individualität durch das Eingehen in das „Verheißungsvoll-Ungeheure“, auf das der am Strand stehende Tadzio am Ende vom „Tod in Venedig“ vorausweist.

Das Leben ist Leiden und Schmerz, das Meer spendet Trost, weil es daran erinnert, dass das individuelle Sein nur eine Station ist zwischen dem Nichts, das war, und dem Nichts, das kommt. Am Meer zu sein macht glücklich, weil es daran erinnert, dass das Leiden irgendwann aufhören wird. Urlaub am Meer, das ist bei Thomas Mann immer auch Urlaub von der eigenen Individualität in ihrer Begrenztheit.

Und eben weil das so ist, eignet sich die Szenerie der Küstenbäder so sehr zur Kulisse vieler Erzählwerke des Dichters. Die Todesnähe und Verträumtheit von Hanno Buddenbrook und Tonio Kröger lässt sich hier in einer Form sinnfällig machen, die vielen Lesern leicht nachvollziehbar wird, wesentlich leichter, als wenn Hanno und Tonio aus irgendeinem vielfach gestuften Binnenland stammten, das die Aussicht auf sich verwischende Horizonte nicht zulässt.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 1. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 1

No. 1April / Mai 1997

Von Eckart Goebel

Eckart Goebel, Jahrgang 1966, ist Dozent für Komparatistik in Tübingen.

Mehr Informationen
Vita Eckart Goebel, Jahrgang 1966, ist Dozent für Komparatistik in Tübingen.
Person Von Eckart Goebel
Vita Eckart Goebel, Jahrgang 1966, ist Dozent für Komparatistik in Tübingen.
Person Von Eckart Goebel