Der Clan der Haarsterne

Die Verwandten der Seesterne bieten zwischen ihren feingliedrigen Armen vielen Tieren Unterschlupf

Wohnungen sind im Ballungsraum Meer äußerst knapp. Sie werden hart umkämpft, wenn es darum geht, die besten Plätze zu ergattern. Der Siedlungsdruck ist so groß, daß die submarinen Kreaturen sogar einander bewohnen. Auch die Haarsterne, vielarmige und zartgliedrige Verwandte der Seesterne, die zu den farbenprächtigsten Bewohnern der Riffe zählen, beherbergen ganze Heere von Krebsen, Asseln, Borstenwürmern, Schlangensternen und Saugfischen in ihrem kaum zu durchdringenden Geäst aus gelben, roten, blauen, weißen und schwarzen Armen. Wissenschaftler staunten nicht schlecht, als sie mehr als ein Dutzend dieser Organismen in einem einzigen Haarstern fanden. Haarsterne leben im Mittelmeer, in der Karibik, die meisten jedoch bevölkern die Riffe des Indopazifik. Sie siedeln an nahrungsreichen Plätzen und möglichst in exponierter Lage. Dort werden die langen befiederten Arme, die den Tieren ihren Namen bescherten, ausgerollt und wie ein Fächer in der Strömung ausgebreitet. Zahlreiche Tentakel filtern Plankton aus dem Wasser, schleimen die Partikel ein und transportieren sie zum Mund. Daher bevorzugen die meisten der seltsamen Meereslebewesen erhöhte Ankerplätze: auf Korallen, Schwämmen und Korallenfächern.

Federsterne, wie die Tiergruppe auch genannt wird, fressen im Indopazifik rund um die Uhr. Andere Arten in der Karibik verziehen sich tagsüber in Schlupflöcher am Riff. Erst nachts erblühen sie wieder zu voller Pracht, um das Festbankett zu eröffnen – auch für die Hausgäste, die sich vom Schleimbrei aus den Nahrungsrinnen der Haarsternarme bedienen. Ist der Tisch nicht mehr reichhaltig für den Federstern gedeckt, verändert er seine Position und sucht sich nahrungsreichere Gefilde. Schließlich ist er in der Lage, auf seinen dünnen, krallenartigen Beinen fortzukriechen. Oder er schwimmt mit anmutigen Ruderbewegungen der Arme durchs Meer.

Die unterschiedlichen Haarstern-Gesellschafter scheinen sich nicht ins Gehege zu kommen. Im Zentrum der Wohnburg auf der Mundscheibe hockt gerne der Springkrebs. Während er dem Haarstern nur ein bißchen Nahrung abjagt – Experten bezeichnen diesen Konkurrenten als „kommensal“, weil sie vom gleichen Tisch essen, anstatt sich gegenseitig zu verzehren –, gelten Würmer, Asseln und Schnecken als Parasiten. Häufig leben Haarsterne auch mit dem Federstern-Saugfisch zusammen. Er gehört zur Gruppe der „Schildbäuche“ und hat sich stark spezialisiert. Der Körper wird nicht von Schuppen, sondern von einer Schleimschicht geschützt. Eine Schwimmblase zur Auftriebsregulierung fehlt ihm; eine Saugscheibe am Bauch verleiht dem bunten Tier besseren Halt in seiner turbulenten Umwelt. Er lebt für gewöhnlich auf den Felsen im Gezeitenbereich.

Vergesellschaftet ist der Haarstern auch mit zahlreichen Putzergarnelen, die zwischen den fiedrigen Armen hin- und hersausen. Unermüdlich säubern sie ihre Festung und befreien sie vom Dreck, der auf sie herabregnet. Um nicht aufzufallen, bedienen sich die Hausgäste verblüffender Tarnkappen: Ihr Farbkleid ist nach der Vorlage des Gastgebers geschneidert. Zudem verschleiern Streifen und Punkte auf ihren Panzern jedem Beobachter oder Feind ihre wahre Gestalt. Der kleine Springkrebs treibt die Kopierfreudigkeit noch auf die Spitze, indem er sich an Beinen- und Scherenspitzen mit derselben Farbe schmückt wie der Haarstern an den Enden seiner Fiederchen.

Unverschämterweise fressen einige der Bewohner vom Gewebe des Wirts, um ihm farblich noch mehr zu gleichen. Ansonsten haben die aus Kalkskelettsubstanz bestehenden Haarsterne so gut wie keine Feinde. Ihre Schutzangebote machen sie für Gäste interessant, so daß sich die zahlreichen Partnerschaften zwischen den verschiedenen Tierklassen entwickeln konnten. Selbst Zaungäste wie die Feilenfische oder Geisterpfeifenfische suchen die Nähe von Haarsternen und flüchten bei Gefahr in deren schützende Arme.

Kommt er in eine Krisensituation, amputiert der Haarstern in wenigen Augenblicken einen seiner vielen Arme. Bei der kleinsten Berührung fällt er an einer speziellen Bruchstelle ab. Er verschließt seine Blutgefäße und versiegelt die Wunde rasch mit einer Membran. Dank einem ausgezeichneten Regenerationsvermögen bildet er das fehlende Körperglied sehr schnell nach. Das spektakuläre Abwerfen eines oder mehrerer Körperteile bei Gefahr bezeichnen Biologen als Autotomie. Zwar ist das erbeutete Glied nur eine magere Vorspeise, doch der zudringliche Angreifer wird mit dieser Taktik irritiert – und der Haarstern bleibt fürs erste verschont.

mare No. 12

No. 12Februar / März 1999

Von Evelyn Seeger und Jürgen Freund

Evelyn Seeger, Jahrgang 1959, ist freie Journalistin und Übersetzerin.

Jürgen Freund, Jahrgang 1959, ist freier Unterwasserfotograf und Fotojournalist. Beide leben in München. Für beide ist dies ihre erste Arbeit für mare

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Vita Evelyn Seeger, Jahrgang 1959, ist freie Journalistin und Übersetzerin.

Jürgen Freund, Jahrgang 1959, ist freier Unterwasserfotograf und Fotojournalist. Beide leben in München. Für beide ist dies ihre erste Arbeit für mare
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