Der Buddha vom Pazifik

In der Einsamkeit von Big Sur fand der unruhige Geist des Skandalautors und Enfant terrible Henry Miller zu seiner Mitte

Es ist das Jahr 1944 – der Zweite Weltkrieg ist noch lange nicht zu Ende, auch nicht in der tiefsten kalifornischen Provinz, als sich Henry Miller, Enfant terrible unter den amerikanischen Gegenwartsautoren und langjähriger Europa-Exilant, für eine Weile an der Westküste seines verhassten Heimatlands niederlässt. Als guter Kumpel eines Restaurantbesitzers und als eine Art Untermieter einer befreundeten Kollegin fasst er hier Fuß, orientiert sich neu. Ohne es geplant zu haben. Sie, die vergleichsweise unbekannte Autorin Lynda Sargent, überlässt ihm ein Zimmerchen direkt am Ozean, in dem er es sich mit seiner klapprigen, schon arg beanspruchten Reiseschreibmaschine gemütlich machen kann. Und auf die er, im Duett mit seiner Landlady, energisch einhämmert.

Denkbar einfach ist seine Unterkunft hoch über den von Gischt umgebenen Felsen, die ganze Gegend eigentlich nicht mehr als eine Einöde, doch der Blick auf den Meereshorizont, das Gefühl schier endloser Weite und das Bewusstsein, an einer Art Land’s End angelangt zu sein, rauben ihm, dem seit geraumer Zeit gründlich Desillusionierten, den Atem. Die grandiose Aussicht und die einzigartige Atmosphäre, der Wind und die Klippen, das Getöse der Brandung, die Einsamkeit und vor allem anderen die Abwesenheit von Zivilisation ziehen ihn sofort in ihren Bann. Der Mangel an Annehmlichkeiten, der Verzicht auf Bequemlichkeit stören ihn hingegen nicht im Geringsten. Nur eine einzige, schmale und kurvenreiche Straße gibt es hier, eine erst in den 1930er-Jahren mit größter Mühe in die Felsen geschlagene Schneise – ein Highway voller spektakulärer Panoramen, der sich über dem Ufer entlangschlängelt und oft wegen Erdrutschen gesperrt werden muss.

Rita Hayworth und Orson Welles sind schon vor ihm da gewesen, haben aber gleich wieder kehrtgemacht. Miller dagegen ist zum Bleiben entschlossen. Er trotzt der fast feindseligen Anmutung dieser widerspenstigen, doch schönen Küste. Ihm gefällt, dass sie sich – wie zuvor auch er selbst, in seiner Persönlichkeitsentwicklung als junger Erwachsener – nicht zähmen lässt, sich nicht bevormunden lassen will. Dass sie sich rau, spröde und unzugänglich präsentiert, nichts vordergründig Liebenswertes an sich hat und nie um Anschmiegsamkeit buhlt. Miller bewundert ihre Wildheit.

Schon 1942 hat es den 51-Jährigen nach Kalifornien verschlagen, ist er mit diesem sagenumwobenen, aber offenkundig abweisenden Big Sur erstmals in Berührung gekommen, auf Empfehlung von Bekannten. Dass er schließlich nahezu zwei Jahrzehnte an diesem unwirtlichen Meeressaum bleiben wird, steht momentan noch in den Sternen. Dass er hier einmal zum Dauergast mutieren wird, zu einem echten Magnet, um den herum sich dann eine kleine, aber feine Künstlerkolonie schart, ist derzeit nicht einmal ansatzweise abzusehen.
Den aus New York City stammenden Miller, Persona non grata des amerikanischen Literaturbetriebs schlechthin und einen der begabtesten, aufmüpfigsten US-Schriftsteller seiner Zeit, spült es direkt aus den aufregenden Pariser Emigrationsjahren in den besinnlichen, für seine Verhältnisse erschreckend reizarmen Big Sur. Während er jahrzehntelang vergeblich auf die Publikation seiner erotisch aufgeladenen, als obszön verrufenen „Wendekreis“-Romane warten muss, deren Verbotsverfahren sich in Amerika eine Ewigkeit hinziehen werden, seinen Ruhm aber stetig mehren, richtet er, der in Europa längst Gefeierte, sich an der kalifornischen Küste unter primitivsten Bedingungen häuslich ein.

Um es gleich vorwegzunehmen: Ausgerechnet Miller, umtriebig, nomadisch und notorisch neugierig, wird in seinem armseligen Refugium auf einmal innere Ruhe finden und sogar seinen Seelenfrieden. Hier gelingt ihm die Konzentration aufs Wesentliche. Hier – ohne Ablenkung und auch ohne Stimulus –entsteht die Trilogie seiner Meisterwerke „Sexus“, „Plexus“, „Nexus“, auch „The Rosy Crucifixion“ betitelt, hier korrespondiert er ausführlich mit seiner Langzeitgeliebten und Dauermuse Anaïs Nin, hier verfasst er nun auch eine große, philosophisch gehaltene Hommage an seine Wahlheimat. Hier fertigt er mit furiosem Eifer zahllose Aquarelle an, die er geschickt als Zahlungsmittel einsetzt, schreibt – erfolgreich – Bettelbriefe, mit denen er sich eine in Maßen unabhängige Existenz verschafft. Hier verschleißt er gleich mehrere junge Ehefrauen mitsamt deren Geduld, schlägt sich mit Geliebten und den nicht nachlassenden Sorgen um Kleinkinder herum. Hingegen schafft er es nicht, die hartnäckigen Schmarotzer und Parasiten auf Dauer loszuwerden. Ständig muss er ungebetene Besucher vor die Tür setzen, die zu Dutzenden anreisen, ihrer Bewunderung freien Lauf lassen wollen, ihn aber vom Schreiben abhalten.

Bald führt Miller eine selbstgenügsame, mönchisch zu nennende, radikal anspruchslose Existenz, befreit sich von der Mehrzahl irdischer Bedürfnisse, kehrt dem Kultur-„Betrieb“ vollends den Rücken. Vom selbst ernannten Clown und über die Stränge schlagenden, exzessiven Plauderer seiner Jugend- und Mannesjahre wandelt er sich im letzten Lebensdrittel, unter dem wohltuenden Einfluss des Big Sur, dieses „Großen Südens“, allmählich zum Weisen. Zu einem nachdenklichen älteren Mann, dessen Rat und Gesellschaft man sucht – eher in sich gekehrt als extrovertiert. Zum verständnisvollen, fast übermäßig toleranten Papa von Val und Tony, seinen vergötterten Kindern. Vom Pornografen zum Meister der Kontemplation. Gelassen und altersmilde, abgeklärt und ironisch, hager und verschmitzt. Dabei, auch was seine Gesichtszüge betraf, fast asiatisch anmutend: ein Geläuterter.

 
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mare No. 142

mare No. 142Oktober / November 2020

Von Jens Rosteck

Jens Rosteck, 1962 geboren, lebt im Badischen. Der promovierte Musikwissenschaftler, Kulturgeschichtler und Pianist ist Autor vieler Biografien und Porträts. Im mareverlag erschien soeben sein Buch „Big Sur – Geschichten einer unbezähmbaren Küste“.

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Vita Jens Rosteck, 1962 geboren, lebt im Badischen. Der promovierte Musikwissenschaftler, Kulturgeschichtler und Pianist ist Autor vieler Biografien und Porträts. Im mareverlag erschien soeben sein Buch „Big Sur – Geschichten einer unbezähmbaren Küste“.
Person Von Jens Rosteck
Vita Jens Rosteck, 1962 geboren, lebt im Badischen. Der promovierte Musikwissenschaftler, Kulturgeschichtler und Pianist ist Autor vieler Biografien und Porträts. Im mareverlag erschien soeben sein Buch „Big Sur – Geschichten einer unbezähmbaren Küste“.
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