Der Blick in die Ferne

Der Blick der alten chinesischen Philosophie des Daoismus aufs Meer spiegelt­ Chinas heutigen Blick auf die Welt

Eine frühe chinesische Kosmologie geht davon aus, dass sich alle Dinge und Geschehnisse einem der „Fünf Elemente“ Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser zuordnen lassen. Folgt man der Idee des französischen Philosophen Gaston Bachelard, dass erfolgreiche Philosophien nicht nur eine formale, sondern auch eine „materielle Imagination“ bedienen müssen, also nicht nur das abstrakte Denken, sondern auch die Einbildungskraft, dann kann man versuchen, auch die klassischen Lehren der chinesischen Antike mit den Elementen in Verbindung zu bringen.

Der Schule der sogenannten Legalisten, den Vordenkern des harten Staates, ließen sich die Kälte und Schärfe des Metalls zuordnen. Das Feuer passt zum Aufbegehren des Hedonisten Yang Zhu gegen die Zwänge der Konvention. Bei traditionsverbundenen Lehren, wie sie – nicht ohne Vorbehalte – im Konfuzianismus zu finden sind, könnte man an die Erde denken. All dies mag etwas gezwungen erscheinen, aber zweifellos steht der berühmte Klassiker des Daoismus, das Buch Laozi, im Zeichen des Wassers.

Wasser ist nicht gleich Meer. Es ist sogar konstatiert worden, dass die chinesische Kultur, mit gravierenden Folgen, gerade keine Kultur des Meeres sei. Im Vorfeld der 1989 gewaltsam niedergeschlagenen Tiananmen-Bewegung sorgte in China die später als nihilistisch gebrandmarkte Fernsehserie „Heshang“ (Der frühe Tod des Gelben Flusses) für den Unmut der Nationalisten. Sie attackierte die erdhafte „gelbe Zivilisation“, die sich auf dem Land eingemauert hatte, statt sich aufs Meer zu wagen, als rückständig gegenüber der weltoffenen, maritimen „blauen Zivilisation“ des Westens.

Das Urbild dieser Kulturkritik findet sich in der Geschichtsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels. „Dieses Hinaus des Meeres aus der Beschränktheit des Erdbodens“, so der deutsche Philosoph, „fehlt den asiatischen Prachtgebäuden von Staaten, obgleich sie selbst an das Meer angrenzen, wie zum Beispiel China. Für sie ist das Meer nur das Aufhören des Landes, sie haben kein positives Verhältnis zu demselben.“ Das Land aber „fixiert den Menschen an den Boden, er kommt dadurch in eine unendliche Menge von Abhängigkeiten“. Zugleich verbindet Hegel mit dem Hinaus aufs Meer Mut, Tapferkeit und Kühnheit, die Bereitschaft zu „Eroberung und Raub“ und schließlich nichts Geringeres als das „Prinzip der Freiheit“.

Der Daoismus aber kennt durchaus die befreiende, den Horizont erweiternde Wirkung des Meeres, im Unterschied zur Beschränktheit des Blickes eines „Brunnenfroschs“ (Zhuangzi, 17). Doch hätte er hinter der Überhöhung der Macht des Meeres einen maskulinen Kult der Stärke gewittert. Und genau dagegen richtet sich die daoistische Philosophie des Wassers. Wenn das Meer, zusammen mit dem riesigen Strom Jiang im Süden des Landes, „König der hundert Täler“ ist, dann deshalb, so das Laozi, weil es „sich darauf versteht, unter ihnen zu sein“ (Laozi, 66). Und wenn das Wasser alles überwindet, dann nicht, weil es stark ist, sondern weil „nichts auf der Welt schwächer ist als es“ (Laozi, 78).

Der Daoismus ist eine der Hauptströmungen des philosophischen Denkens, das sich seit etwa 500 v. Chr. als Antwort auf eine der tiefsten Krisen der chinesischen Zivilisation herausbildet. Das Königreich des Hauses Zhou (11. bis 3. Jahrhundert v. Chr.) ist auseinandergebrochen, die ehemaligen Vasallen machen aus ihren Lehen unabhängige Staaten und geraten zunehmend miteinander in Konflikt. Auch die religiösen und moralischen Überzeugungen geraten ins Wanken; die gesamte Ordnung ist in Auflösung begriffen. Die alte Welt, so heißt es, steht unter Wasser. In den letzten Jahrhunderten der Zhou-Zeit, die rückblickend „Zeit der Streitenden Reiche“ genannt wurde, zerfällt sie in kriegeri- schen Wirren.

Zu keiner Zeit hat sich das Denken in China mehr radikalisiert als in dieser. Alle Gewissheiten machen einer um sich greifenden Ruhelosigkeit Platz. In der Suche nach Antworten auf die Frage, wie die Welt aus dem Chaos, in dem sie zu versinken droht, zu retten sei, entstehen die Grundrichtungen der chinesischen Philosophie: Die Konfuzianer und die Mohisten rufen nach Moral und entwickeln eine neue Ethik der „Menschlichkeit“ und der Überwindung des Partikularismus durch „universale Liebe“. Der Legalismus weist dies als realitätsblind zurück und sieht allein eine institutionelle Lösung: die gewaltsame Errichtung eines autoritär gelenkten Zentralstaats.


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mare No. 125

No. 125Dezember 2017 / Januar 2018

Von Heiner Roetz und Christian Schellewald

Heiner Roetz, geboren 1950, ist seit 1998 Professor für Geschichte und Philosophie Chinas an der Ruhr-Universität Bochum.

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Vita Heiner Roetz, geboren 1950, ist seit 1998 Professor für Geschichte und Philosophie Chinas an der Ruhr-Universität Bochum.
Person Von Heiner Roetz und Christian Schellewald
Vita Heiner Roetz, geboren 1950, ist seit 1998 Professor für Geschichte und Philosophie Chinas an der Ruhr-Universität Bochum.
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