Der Bittgang

Jahrzehntelang schändeten jesuitische Missionare in Dörfern an Alaskas Beringstraße Hunderte Eskimokinder. Gerichte verurteilten das Bistum Anchorage zu Entschädigungen in Millionenhöhe. Vor allem muss der Bischof die Opfer persönlich um Vergebung bitten

Die Sonne bricht durch die Wolken, die Ränder scheinen auf in Orange und Gelbrot, eine Morgenröte, wie gemacht für seine Ankunft, und vom Himmel hoch da kommt er her, ein heller Punkt am Horizont, der sich von weit her nähert, größer wird, über die Bucht mit den Eisschollen zieht und dann an der Küste landet. Der Bischof öffnet die Tür der Propellermaschine und tritt hinaus, Donald J. Kettler, grüne Outdoorjacke, ein großer, massiger Mann auf unsicheren Füßen, die unter seinem Gewicht nachzugeben scheinen. Er bleibt vor der Maschine stehen, ferner Blick über das weite Land – als TV-Priester, der er einmal war, weiß er, das ist das Bild, auf das die Presse wartet. Dann schwenkt er zu der Kamera hinüber und lächelt ein „guten Morgen“. Außer seinem Pressesprecher Robert Hannon, Pater Stanislaw Jaszek und zwei Journalisten erwartet ihn niemand auf dem Rollfeld in der arktischen Tundra.

Er trägt eine Aktentasche, und in gewisser Weise passt das, denn was er hier erfüllt, ist eine Strafauflage. Verhängt hat sie der Bankruptcy Court of Alaska Anfang 2010 über die katholische Diözese Fairbanks, Fallnummer 09-001100-DMD. Neben zehn Millionen Dollar Entschädigung, die an 300 sexuell missbrauchte Opfer der Diözese zu zahlen sind, hat der Bischof „einer nicht geldlichen Leistungsverpflichtung zur Versöhnung und Heilung“ nachzukommen: in alle geschändeten Gemeinden reisen und ein „Entschuldigungsschreiben“ vorlesen; beteuern, dass die Kirche Schuld am Missbrauch trägt und nicht die Opfer; eine Liste aller Täter veröffentlichen und an die Kirchentür heften; den Opfern erklären, dass sie nicht in die Hölle kommen, weil sie die Kirche verklagt haben; versichern, dass sie keine Sünde begangen haben, weil sie ihr Schweigen gebrochen haben; garantieren, dass die Sakramente, obwohl von Verbrechern vollzogen, Gültigkeit haben. Und „Healing Sessions“ abhalten. Heilsitzungen. Der Begriff kommt von Bischof Kettler höchstpersönlich. „Liebe Kläger und Gläubige“, hat er sich in einem Schreiben an die Opfer gewandt, „ich werde Ihre Gemeinden besuchen, um diese Gefühle (des Entschuldigens) persönlich auszuweiten und Healing Sessions abzuhalten. Ich bin zuversichtlich, dass wir zusammenarbeiten werden.“

Hier in St. Michael, „dem traumatischsten, fürchterlichsten aller Missbrauchsorte“, hat er sich besonders viel Zeit zum Entschuldigen genommen, fünf Tage. Sie fahren in einem verbeulten Toyota Tacoma den Weg nach St. Michael. An einer langen Leine, weit auseinander gesteckt, laufen die Strommasten von Hügel zu Hügel bis ins Dorf hinein. Links und rechts Grasbüschel, von dünnem Schnee bedeckt. Sie passieren den Ortseingang, fahren vorbei an der Müllhalde, dem Wassertank, dem Stromgenerator, vorbei an der Schule, 400 Menschen leben hier, der Bischof schaut nach rechts und links, Vorhänge werden weder auf- noch zugezogen, auf der Straße bleibt niemand stehen. Der Fahrer zeigt und erklärt, der Bischof lacht. Dann fahren sie vor die Kirche. Der Bischof steigt aus, nimmt sein schwarzes Köfferchen, Pater Stan wuchtet den schweren Schalenkoffer von der Pritsche des Pick-ups und eilt hinterher, um den Abstand nicht zu groß werden zu lassen.

Die Kirche ist aus weißem Wellblech, ein nüchterner Zweckbau, der auf Stelzen im Permafrostboden steht. Nur das Kreuz und das rote Dach und die zwei Geschosse heben sie von den übrigen Baracken ab. Sie liegt an der Küste, irgendein Priester hat einen Anker hochgeschleppt, niemand weiß, warum. Die Kirche ist neu, von 2004. Die alte, deren Grundbalken noch im Gras davor liegen, ist abgerissen worden. Gerade noch rechtzeitig. Als die Runde machte, dass die Opfer den Ort des Missbrauchs abfackeln wollten, beschloss Kettler schnell, dass man sowieso eine neue Kirche möchte. Für die Demontage musste man Männer aus dem Nachbarort holen, aus St. Michael wollte niemand Hand anlegen. Ein Opfer hat einige Balken im Ofen verfeuert, ein paar sind liegen geblieben. Immer dichter, immer höher fällt Schnee darauf, bis sie lautlos unter einer Decke verschwinden.

Von innen, in der Einliegerwohnung, die über der Kirche liegt, blickt Kettler auf die stille weiße Weite. Grau, in Schichten übereinandergelegt, das Land, das Eis, der Himmel. St. Michael liegt direkt am Meer auf einer Halbinsel. Die Gegend ist weit und flach, nur zwei Straßen führen stadtauswärts, eine zum Öltank an den Nordzipfel der Insel, die andere in den Nachbarort Stebbins. Hinaus oder hinein kommt nur, wer das Flugzeug nimmt. Telefon gibt es erst seit Mitte der 1980er Jahre. Die ganze Küste an der Beringstraße ist von Orten gepunktet, die nicht durch Straßen verbunden sind. Geschlossene Systeme, in die vom Schneemobil bis zur Tüte Chips alles per Schiff oder Flugzeug eingeführt werden muss. Hier an der Küste leben fast ausschließlich Ureinwohner, „Eskimos“, wie sie sich selbst stolz nennen. 80 000 von ihnen bevölkern Alaska, den sechstreichsten Bundesstaat der Union.

Arbeit gibt es kaum, aber hungern oder frieren muss niemand. Die Eskimos bekommen von den Ölgesellschaften eine jährliche Dividende, dafür, dass sie ihr Land ausbeuten lassen. Sie bekommen vom Staat Sozialhilfe, Essensmarken, Highschools, Wasserleitungen, Telefonnetze. Es gibt Supermärkte, es gibt geheizte Hütten, es gibt die neueste Outdoorkleidung, es gibt durch die Abfindungen auch Dutzende Millionen Dollar in 400-Einwohner-Dörfern wie St. Michael oder Stebbins, aber die Tage haben kein Ziel, keinen Inhalt. Sie sind leer wie arktische Tundra. Der Staat zahlt und überlässt es den Menschen, einen Lebensinhalt zu finden, den sie zu verlieren begannen, spätestens seit Alaska 1959 Bundesstaat der USA wurde, seit das Fischen, das Jagen, der Kanubau, seit das selbstbestimmte Leben mit dem Meer hinfällig und ihre jahrhundertealte Kultur wegmodernisiert wurde. Der Staat zahlt und hält sich auch sonst heraus. Es gibt in St. Michael keinen Bürgermeister, keinen Richter, keine Polizei.

Nur die Kirche kam, jesuitische Missionare. Sie begannen in ganz Alaska um 1900 das Machtvakuum zu füllen, das die Schamanen hinterlassen hatten. Die wurden aus den Dörfern gejagt, weil sie nichts gegen die Grippeepidemien ausrichten konnten, die die weißen Siedler mitgebracht hatten. Die Kleriker versprachen seelische Gesundung im Jenseits, gaben Halt in einem Abgrund aus Alkohol, Gewalt und Selbstmord, denen vor allem, die am verletzlichsten waren, den Kindern. Und sie hatten Macht. Die Macht der Sprache. Die Macht der weißen Rasse. Die Macht, in die Hölle zu schicken.

In Nordamerika begann der Skandal vor zehn Jahren, damals tauchten in dem Erzbistum Boston die ersten Missbrauchsfälle auf. Im Anschluss daran meldeten sich bundesweit immer neue Opfer, ein Bistum nach dem anderen ging pleite, die katholische Kirche der USA hat bis heute zwei Milliarden Dollar Entschädigung gezahlt. Nirgends ging es so brutal zu wie bei den Eskimos in Alaska. Keiner war schwächer, keiner konnte sich weniger wehren. Keiner wurde weniger gehört. Nirgends war das Gefälle zwischen Macht und Ohnmacht größer, nirgends wurde es rücksichtsloser ausgenutzt. Nirgends dauerte es länger. Das Bistum Fairbanks listet auf seiner Website 43 Täter auf – bezogen auf 16 000 Gemeindemitglieder ist das trauriger Kirchenrekord in den USA.

„Die Abgeschiedenheit und die Kälte könnten dazu beigetragen haben“, sagt Bischof Kettler. Er stellt sich den Fragen der Presse gern; es sei wichtig, dass Journalisten hier sind und berichten. Das Wohnzimmer der Einliegerwohnung ist geheizt, es gibt Kaffee, Fertigpizza, eine offene Küche, Robert Hannon hat Pantoffeln an und schreibt mit, was der Bischof antwortet.

Laut Gerichtsakte haben „Kirchenangehörige, überwiegend Jesuiten, in der Diözese Fairbanks sexuelle Verbrechen in verschiedener Form begangen, unter anderem Selbstentblößung, Berühren von Genitalien über und unter der Kleidung, Oralverkehr, Vergewaltigung einschließlich vaginaler und analer Penetration, verübt an Kindern der Athabaskan, Yup’ik-Eskimos oder Inupiat-Eskimos über eine Periode von mehr als drei Dekaden“.


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mare No. 85

No. 85April / Mai 2011

Von Dimitri Ladischensky und Martin Schlüter

Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, hat selten so viel Verrohung, aber auch selten einen so herzlichen Empfang erlebt wie bei den Einheimischen in St. Michael.

Martin Schlüter, geboren 1977, selbstständiger Fotograf in Hamburg, verbrachte insgesamt fünf Wochen in St. Michael. Die Fotos entstanden mithilfe eines Stipendiums der VG Bild-Kunst.

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Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, hat selten so viel Verrohung, aber auch selten einen so herzlichen Empfang erlebt wie bei den Einheimischen in St. Michael.

Martin Schlüter, geboren 1977, selbstständiger Fotograf in Hamburg, verbrachte insgesamt fünf Wochen in St. Michael. Die Fotos entstanden mithilfe eines Stipendiums der VG Bild-Kunst.
Person Von Dimitri Ladischensky und Martin Schlüter
Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, hat selten so viel Verrohung, aber auch selten einen so herzlichen Empfang erlebt wie bei den Einheimischen in St. Michael.

Martin Schlüter, geboren 1977, selbstständiger Fotograf in Hamburg, verbrachte insgesamt fünf Wochen in St. Michael. Die Fotos entstanden mithilfe eines Stipendiums der VG Bild-Kunst.
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