Der Beat des Ozeans

In den Bildern und Metaphern des Meeres und des Wassers findet die Ambivalenz von menschlicher Gemeinschaft ihren Ausdruck

Im Bild des Meeres findet die Ambivalenz von Gemeinschaft ihren Ausdruck. Sie ist Angst- und Sehnsuchtsfigur zugleich. Die moderne Erfahrung der Konturlosigkeit politischer Subjekte und der Unwägbarkeiten sozialer Beziehungen wird in Metaphern des Wassers und des Ozeans übersetzt. So ist die Assoziation der Menschenmenge mit Ebbe und Flut, offenem Meer und ozeanischen Formen seit der Moderne in der westlichen soziopolitischen Imagination fest etabliert. Der Soziologe Scipio Sighele verglich zu Beginn des 20. Jahrhunderts moderne Massen mit einem „gefährlichen Meer … dessen Oberfläche von jeglichem psychologischen Wind gepeitscht wird“.

Seit dem späten 19. Jahrhundert findet sich diese Gleichsetzung der sozialen Massen mit dem konturlosen Flüssigen, das sich überkommenen Verfahren sozialer Kontrolle entzieht. Mit der Industrialisierung tauchen sie in den Großstädten auf: Verschiedene Nationalitäten, Klassen und Geschlechter vermischen sich plötzlich und ohne ersichtlichen Grund zu einer unberechenbaren Meute. Zugleich ist das Ozeanische, das mit Momenten kollektiver Fusion assoziiert wird, eine Sehnsuchtsfigur der Moderne. Der Rhythmus des Meeres versinnbildlicht eine Vorstellung von Gemeinschaft, die Bewegung mit einer „natürlichen“ Ordnung verbindet. Ihre Überzeugungskraft gewinnt sie aus der Nähe zu elementaren Körpererfahrungen. Schon pränatal bewegen wir uns im intrauterinen Wasser, in einer symbiotischen Verbindung mit dem mütterlichen Körper. Möglicherweise sind unsere Wahrnehmung wie unsere elementaren Sehnsüchte davon geprägt. Babys sind eins mit diesem Element, erst vom sechsten Lebensmonat an verlieren sie den Reflex, beim Untertauchen die Atmung einzustellen. Diese Erfahrung des Einsseins ist vielleicht auch ein Modell für spätere soziale Beziehungen, die unsere Sehnsucht nach Gemeinschaft unbewusst „wiederfinden“ will.

Eigenschaft des Meeres ist der Rhythmus, eine elementare Naturerscheinung, die es mit dem Lebendigen, auch mit dem Menschen teilt. „Der Mensch ist ein rhythmisches Tier“, konstatierte in den 1930er Jahren der französische Ethnologe Marcel Mauss, der die „Körpertechniken“ (auch die des Schwimmens) zum Gegenstand der Sozialforschung erhob. Er wollte darüber die Tiefendimension der Gesellschaft erkennen, jenen unbewussten sozialen Kitt, der Gemeinschaften jenseits rationaler Übereinkünfte zusammenhält.

Sowohl historisch wie aktuell scheint das Imaginäre der Gemeinschaft eng mit der Metaphorik des Wassers verbunden zu sein. Damit geht eine unauflösliche Ambivalenz einher: Im „Haifischbecken“ der Gesellschaft ist Gemeinschaft nur begrenzt realisierbar. Eine symbiotische Gemeinschaft, sowohl in Eltern-Kind- wie auch in Liebesbeziehungen, ist nur zeitweise möglich oder wünschenswert. Das, was Freud einmal „ozeanische Gefühle“ nannte, birgt die Gefahr des Verlusts des „Eigenen“, evoziert Ängste vor Auflösung von Identität.

Zum Phantasma der Kontrolle gehören Techniken, wie sie im Umgang mit tobenden Ozeanen, mit Flutwellen und unterirdischen Strömungen entwickelt wurden. Der Massentheoretiker Gustave Le Bon sah Ende des 19. Jahrhunderts in der Masse als neuem politischen Kollektivsubjekt ein Gegenmodell zur politischen Öffentlichkeit, wie sie seit der Aufklärung verstanden wurde. Während hier die Bürger über rationale Entscheidungen einen Konsens herstellen, werde die Masse vom Unbewussten, von Gefühlen und Stimmungen gelenkt und sei rationalen Argumenten gar nicht zugänglich. Stattdessen reagiere sie auf Bewegungen und synchronisiere sich über den Rhythmus der Atmung. Weil sich in dieser symbiotischen Gemeinschaft das Individuum auflöst, muss man die Masse mithilfe ihrer eigenen Triebenergien beeinflussen und ihre destruktiven Energien in kulturstärkende Kräfte umwandeln. Im Rhythmus fand er das Mittel dazu.

So verwundert es nicht, dass verschiedene Formen der Rhythmisierung zu den Körpertechniken politischer Gemeinschaftsstiftung in der Moderne gehörten, um die konturlose Masse zur politischen Gemeinschaft zu formen. „Die Gesinnung ins Schwingen bringen“ nannte das ein Zeitgenosse.

Von den Sprech- und Bewegungschören bis zu Massenformationen versucht man auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums politische Gemeinschaft sinnlich und körperlich erfahrbar zu machen. Kommunikation jenseits der Sprache löst über Bewegungen, Gesten und Vibrationen Resonanzen aus, die sogar zur Ekstase führen können.

Die Synchronisierung der Einzelrhythmen zum bewegten Gemeinschaftskörper steht für den Traum der Auflösung der Einzelwillen im „großen Ganzen“. Die politische Problematik dieser Utopie des „Eintauchens“ erwies sich in Nationalsozialismus und Stalinismus. Hier allerdings wurde der Rhythmus der Massen in den Takt der Massenformationen überführt. Die spontane Bewegung, eingefangen in einer hierarchisch kontrollierten gesellschaftlichen Ordnung, entsprach derjenigen der industriellen Produktion. Sie gehorchte dem Takt, nicht dem Rhythmus.

Die Gegenüberstellung Gemeinschaft versus Gesellschaft war in der modernen Kulturkritik stets gleichbedeutend mit derjenigen zwischen „Rhythmus“ (als stete Wiederkehr des Ähnlichen) versus „Takt“ als „regelmäßige Wiederholung des Gleichen“. Die moderne industrialisierte Gesellschaft bedeute Verlust des Rhythmus und Unterordnung unter den Takt der Maschine. In dem Film „Moderne Zeiten“ von 1926 stürzt Charlie Chaplin als Fließbandarbeiter die Fabrik ins Chaos, weil er sich nicht in deren Produktionsablauf „eintakten“ kann: Ein Übermaß an menschlicher – nicht nach dem Metrum geregelter – Bewegung bringt den industriellen Arbeitsablauf zum Stillstand. Chaplins Verweigerung war eine revolutionäre Geste, weil die industrialisierte Gesellschaft auch den Einzelnen in ein soziales Gefüge einpasste, das dem Prinzip fordistisch organisierter Produktion entsprach: Der Takt der Maschine gibt zugleich das Tempo der modernen Lebensformen vor. Rhythmus dagegen kommt von „fließen“.

Moderne Gesellschaften leben mit einem Zukunftshorizont, der als Erwartungshorizont die „Machbarkeit“ und Steuerbarkeit von Gesellschaft suggeriert. Die Kartografierung des Meeres, die Seismografie seiner unterirdischen Bewegungen suggeriert Sicherheit gegenüber plötzlichen Überschwemmungen, wenn das Wasser über die begrenzenden Ufer tritt, die den geometrisch geordneten Raum der sozialen Gemeinschaft vor dem konturlosen Raum des Wassers schützen. Im Vermessen des Beweglichen liegt ein Ordnungsversprechen. Wenn der Horizont als klare, sichere Demarkationslinie jedoch – wie auf See – veränderlich und unsicher wird, wenn nicht lineare, dem Rhythmus des Meeres vergleichbare Dynamiken im Sozialen auftauchen, drohen überkommene Ordnungsmodelle zu versagen. So erleben wir zurzeit signifikante Veränderungen im Verhalten von Menschenmassen. Die Zeitung „Le Monde“ spricht von einer marée humaine à Tunis, als sich am 25. Februar dieses Jahres mehr als 100 000 Tunesier in der Hauptstadt versammelten, um die Auflösung der Übergangsregierung von Mohamed Ghannouchi zu fordern. Marée bezeichnet im Französischen sowohl Flut wie Gezeiten, aber auch den (Menschen-)Schwarm.

In Zeiten globaler Vernetzung durch das Internet entstehen fluide, vorübergehende Gemeinschaften, die plötzlich auftauchen. Ein Beispiel dafür sind die Flashmobs oder Smartmobs, die sich im Internet organisieren, um sich zu spontanen, punktuellen Aktionen im öffentlichen Raum zu versammeln und wieder auseinanderzugehen. Ihr Spektrum reicht von künstlerischen Happenings über Spaßmobs bis zu politischen Protestaktionen.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 85. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 85

No. 85April / Mai 2011

Von Inge Baxmann

Inge Baxmann ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Symbolisierung und Inszenierung der Nation in der Französischen RevoluHtion und dem frühen 20. Jahrhundert sowie Körpertechniken des Wissens in der Moderne. Sie gehört zum wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift für Medienwissenschaft und ist Directeur d’Études associé der Maison des Sciences de l’Homme in Paris.

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Vita Inge Baxmann ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Symbolisierung und Inszenierung der Nation in der Französischen RevoluHtion und dem frühen 20. Jahrhundert sowie Körpertechniken des Wissens in der Moderne. Sie gehört zum wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift für Medienwissenschaft und ist Directeur d’Études associé der Maison des Sciences de l’Homme in Paris.
Person Von Inge Baxmann
Vita Inge Baxmann ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Symbolisierung und Inszenierung der Nation in der Französischen RevoluHtion und dem frühen 20. Jahrhundert sowie Körpertechniken des Wissens in der Moderne. Sie gehört zum wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift für Medienwissenschaft und ist Directeur d’Études associé der Maison des Sciences de l’Homme in Paris.
Person Von Inge Baxmann