Der Bauch von Tokio

Tsukiji ist der größte Fischmarkt der Welt. Am frühen Morgen feiert Japan die Nahrung aus dem Meer

Morgens um vier dampfen in Tsukiji die eisigen Fischleiber. Zu hunderten. Weiß wie Schnee und massig wie menschliche Körper liegen sie da in endlosen Spalieren. Trübes Neonlicht behütet die Geschäftigkeit in den Auktionshallen von Tokios Fischmarkt. Wenn Star-Auktionator Masami Eguchi in Gummistiefeln durch den Frostnebel watet, sich immer wieder bückt, mit seiner Taschenlampe in die Versteigerungsstücke leuchtet und abgeschnittene Stückchen prüfend zwischen den Fingern zerreibt, dann tun es ihm Dutzende Zwischenhändler, seine Bieter, gleich. Für den Unkundigen ein geheimnisvolles Ritual. Mit kurzen Stiften vermerken die Händler Merkmale der numerierten Thunfische: Fettgehalt, Fleischanteil, Farbe. Schließlich will jeder bei der Versteigerung das Beste für sich herausholen. Auktionator Eguchi muß für Chuo Gyorui, die Nr.1 unter Tsukijis sieben Großhandelsfirmen, einen möglichst hohen Preis erzielen. Die Zwischenhändler hingegen wollen für vorzüglichen Fisch möglichst wenig bezahlen. Jede Fehleinschätzung schlägt hier teuer zu Buche. Denn für besonders wuchtige Prachtstücke wird schon mal der Wert einer Luxuslimousine geboten – 100 000 Mark und mehr.

Zwischen den wulstigen Fingern klemmt eine Zigarette, Masami Eguchi raucht gelassen. Niemand sieht dem 44jährigen an, daß auf ihm der Druck eines Börsenmaklers lastet. An guten Tagen versteigert er alle sechs Sekunden einen 10 000-Mark-Fisch, 150 Exemplare in einer Viertelstunde. Um fünf, wenn die Auktion beginnt, ist der Moment der Hingabe gekommen. Eine Gratwanderung in vollkommener Konzentration. Setzt Eguchi den Preis zu hoch, bleibt er auf seinem Thunfisch sitzen. Setzt er den Preis zu niedrig, verliert seine Firma binnen Minuten ein Vermögen. Noch bleibt ihm Zeit. Die flinken Äuglein in dem Buddha-Gesicht registrieren alles um ihn her, obwohl er sich doch gleichzeitig aufmerksam mit uns unterhält: Er sieht potentielle Käufer, denen er werbend „Heute kommt großartiger Fisch!“ zuruft, Kollegen, die er von fern per Handzeichen begrüßt. Und natürlich einen Aufpasser seines Arbeitgebers Chuo Gyorui, der während der Auktion seine Verkaufstaktik begutachten soll – Eguchi senkt ergeben die schweren Augenlider. „Menschliche Beziehungen sind mit das Wichtigste im Leben“, erläutert er knapp. Jeder kennt hier jeden, und jeder hat seinen festen Platz in der Rangordnung. Man grüßt sich, man verneigt sich. Fast klingt es aberwitzig, die Fischhändler von Tsukiji bilden eine althergebrachte Gemeinschaft aus feudalen Zeiten, die sogenannte Mura – ein traditionelles Dorf inmitten des High-Tech-Molochs Tokio.

Um den unermeßlichen Fischhunger der noch schlummernden Hauptstädter zu stillen, beginnen sich schon zwischen zwei und drei Uhr nachts 30 000 Handkarren, Mopeds, Fahrräder, Gabelstapler und Laster über das Großmarktgelände zu schieben. Allgegenwärtig die typischen

Taray, Dreiradwägelchen, sie sind nur für Tsukiji zugelassen. Zentimetergenau quetschen sich die gasgetriebenen Plattformen bollernd durch die Gassen. Das Gewusel der Arbeiter und Händler verwirrt. Rasch, doch ohne Hektik, verfolgt jeder seinen Weg. Herber Dieselgestank überlagert das kaum merkliche Fischaroma in der dunklen Morgenluft. Umgeben von 60 000 Zentnern Schuppen, Gräten, Schwänzen, Flossen, und nichts davon ist in der Nase spürbar. Mannshohe Eisbrocken werden auf das Fließband zum Schredder verladen und zerkleinert in riesige Plastiktröge ausgespien – gleich einer Flut von Kandiszucker. Sodann karrt ein Nijirihachimaki, einer, der mit den Händen zupackt und ein gewundenes Tuch als Schweißband um den Kopf trägt, die kalte Fracht mit dem Handwagen ins Innere der Hallen. Nachschub fürs Fischbett.

„Da ist es, unser Firmenzeichen!“ Manami deutet auf einen roten Kreis, der ein Symbol umschließt, das aussieht wie ein laufendes Ampelmännchen. Die ansonsten zurückhaltende Anglistikstudentin hüpft aufgeregt umher. Jahre war sie nicht mehr in Tsukiji, und nun hat sie unter abertausenden Styroporkisten auf Anhieb das eigene Familienlogo entdeckt. Ihrem Onkel gehört ein Fischverarbeitungsbetrieb an der Nordküste, weit weg. Dennoch ist die Firma jedem „Dorfbewohner“ der Mura bekannt. Das Quietschen gestapelter Styroporboxen untermalt als schrilles Morgenkonzert das Treiben an den Ständen, wo in Pullover gemummte Standbesitzer im Wettlauf mit der Kälte die weißen Fischboxen aufschichten. Am Styropor sollt ihr sie erkennen! 600 Tonnen fallen täglich an. Aus den Abfällen, heißt es, entstehen Plastikpüppchen für China.

Manami findet sich noch immer zurecht; daran hat ihre Welt der Computer, Faxe und E-Mails nichts geändert. Als Kind begleitete sie in der Frühe – „wenn der Atem noch Schleier warf“ – die Mutter auf den Markt. Einkäufe für ihr Fischrestaurant. Bis die Auktion anfängt, führt Manami durch die Standreihen der enormen Tsukiji-Südkurve. Betonbauten überdachen das Labyrinth von 1200 Ständen. Ein halbes Hundert Fußballmannschaften könnte gleichzeitig auf den 20 Hektar am bleistumpfen Sumida-Fluß seine Turniere kicken, wäre der Platz grün. Neben Docks, Laderampen und Speichern verfügt Tsukiji auch über nahezu alles, was ein Dorf benötigt: Teestuben und Tempel, Geschäfte, wo von der Gummischürze bis zur Rapperkappe alles zu haben ist, und sogar über ein eigenes Hospital für die 60 000 Menschen, die hier unter verblassenden Sternen stapeln und schleppen. Nur zehn Minuten zu Fuß entfernt glitzern in Downtown Tokio die raffiniert dekorierten Schaufensterauslagen der Ginza, vielleicht die gediegenste Shoppingmeile Asiens.

An Tsukijis Verkaufsständen geht es roher zu. Überraschende Begegnungen strapazieren zuweilen die geschmackliche Phantasie: rotwarzige Seegurken oder unförmige Kreselschnecken, deren Gehäuse wie glibbrige Lauscher klaffen. Über 450 verschiedene Arten von Meeresfrüchten werden jeden Tag angelandet, hergejettet, ausgeladen. Behaarte Krabben rudern lahm in der Panade ihres Sägemehls, das sie kühl halten soll. Tintenfische, grauschleimig und marmorbraun, schimmern in einer violetten Lake, daneben gesalzener Hering, glasig wie Birnenkompott. Nichts, was es da nicht zu kaufen gäbe: Mammutkrebse mit Leuchtkrusten, Seeigel ohne Gehäuse, Muschelpanzer voll Dornen. Vor allem das getrocknete Angebot gibt Rätsel auf. Hauchdünn wie Rosenblätter mutet der gehobelte Bonito an. Verblichenes Gewürzkraut entpuppt sich beim zweiten Hinschauen als gedörrte Sepien.

Dann wieder Sardinen in warmgrünen Porzellantönen und Makrelen, mondsteinblau gemasert. Das Fest der Farben wird nicht erst abends auf den Tellern der vornehmen Ryotei-Restaurants gefeiert, sondern in Tsukiji schon während der klammen Morgendämmerung. In Eimern, in Kartons. Lackweiße Knopfreihen von Saugnäpfen prangen auf feurigen Krakenarmen. Und wie blanke Alufolie blitzt – in Wannen voller Fischblut – silberner Aal. „Die Farbpigmente von Schuppen und Schalen haben für uns Japaner jeweils eine besondere Bedeutung“, sagt Manami. „Hochzeitsfisch etwa ist rot. Rot steht für Feier, Erfolg und Freude.“

Wer von Tsukiji spricht, redet von Superlativen. Eine abgegriffene Formel, scheint’s, doch der größte Fischmarkt der Welt füllt sie mit ansehnlichem Inhalt. Meerestiere für 40 Millionen Mark werden hier umgesetzt. Täglich. 3000 Tonnen jeden Morgen. Das ist siebenmal mehr als bei Rungis in Paris, zweitgrößter Großhandelsmarkt für Fisch. Die „60 000 von Tsukiji“ haben ihre Verkaufsnischen zur Milliardenindustrie ausgebaut. Wenn Tsukijis Absatz stockt, knicken in ganz Japan die Preise. Der Fang aus über 60 Ländern trifft hier Nacht für Nacht mit dem Flugzeug ein, über Land oder auf dem Wasser: Schwertfisch im Cargo-Jet von Amerikas Ostküste, Brassen mit Trawlern aus den pazifischen Staaten, Bluefin in Kühllastern von der Nordküste. In japanischen Mägen verschwinden zehn Prozent des globalen Fischfangs, obwohl das Land nicht einmal zwei Prozent der Weltbevölkerung ausmacht. Japaner essen achtmal so viel Schellfisch wie US-Bürger und 15 mal mehr als Chinesen. Tokio ist das Zentrum des Inselreichs, und Tsukiji wiederum nennen die Japaner den „Bauch von Tokio“.

Vier Uhr dreißig. Schon in ein, zwei Stunden werden sich Zehntausende von Imbißbudenbesitzern, Restaurantköchen und Hausfrauen zwischen die schmalen Ladenzeilen ergießen, um sich mit frischen Köstlichkeiten einzudecken. Deshalb ist Eile geboten. Neben der Auktionshalle machen zwei Angestellte auf einem altarähnlichen Steintisch Fische im Akkord tot. Einer greift rhythmisch ins brodelnde Becken und schlägt dem zappelnden Etwas sein Beilmesser in den Nacken. Der Kollege sticht mit langer Nadel nach, dünnes Blut strömt aus. Mit einer schnellen Armbewegung wird der zuckende Leib in eine Wanne gewischt. Und dann der nächste...


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mare No. 11

No. 11Dezember / Januar 1998

Von Thomas Worm und Kai Sawabe

Thomas Worm, Jahrgang 1957, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik. In mare beschrieb er zuletzt einen Kampf zwischen Pottwal und Kalmar, das „Duell der Giganten“ (in Heft No. 9, zusammen mit Frank J. Jochem).

Kai Sawabe, geboren 1955 in Tokio, arbeitet seit 1981 als freier Fotograf und ist Mitglied der Agentur Visum. 1996 veröffentlichte er Keirin, ein Buch über Radrennen in Japan (zusammen mit dem Autor Betram Job, 114 S., Opus-Verlag, Limburg). Für mare fotografierte er zuletzt japanische Kugelfische (in Heft No. 5)

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Vita Thomas Worm, Jahrgang 1957, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik. In mare beschrieb er zuletzt einen Kampf zwischen Pottwal und Kalmar, das „Duell der Giganten“ (in Heft No. 9, zusammen mit Frank J. Jochem).

Kai Sawabe, geboren 1955 in Tokio, arbeitet seit 1981 als freier Fotograf und ist Mitglied der Agentur Visum. 1996 veröffentlichte er Keirin, ein Buch über Radrennen in Japan (zusammen mit dem Autor Betram Job, 114 S., Opus-Verlag, Limburg). Für mare fotografierte er zuletzt japanische Kugelfische (in Heft No. 5)
Person Von Thomas Worm und Kai Sawabe
Vita Thomas Worm, Jahrgang 1957, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik. In mare beschrieb er zuletzt einen Kampf zwischen Pottwal und Kalmar, das „Duell der Giganten“ (in Heft No. 9, zusammen mit Frank J. Jochem).

Kai Sawabe, geboren 1955 in Tokio, arbeitet seit 1981 als freier Fotograf und ist Mitglied der Agentur Visum. 1996 veröffentlichte er Keirin, ein Buch über Radrennen in Japan (zusammen mit dem Autor Betram Job, 114 S., Opus-Verlag, Limburg). Für mare fotografierte er zuletzt japanische Kugelfische (in Heft No. 5)
Person Von Thomas Worm und Kai Sawabe