Der Ausflug, der kein Ende nahm

Zehntausende britischer Heimkinder wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts nach Australien zwangsverschickt – ohne Wissen der Eltern. Sie sollten dort zu billigen Arbeitskräften heranwachsen

Die Sonne scheint den ganzen Tag, ihr werdet auf Pferden zur Schule reiten, und Kängurus begleiten euch.“ Das hat man den Kleinen damals erzählt, um sie aus den überfüllten Kinderheimen Großbritanniens auf Ozeandampfer nach Australien zu locken. Schiffsladungen voller Jungen und Mädchen, ohne Mütter, ohne Väter, die Jüngsten gerade drei Jahre alt. Neu ausstaffiert, vom Markenstrumpf bis zum Feinrippunterhemd, trotteten sie an Bord. Allein zwischen 1900 und 1970 wurden etwa 30 000 verschickt. Vor allem nach der Depression der 1930er-Jahre brauchte man in Australien Arbeitskräfte, und Kinder waren pflegeleicht. Rund 7000 ehemalige britische Kindermigranten leben heute noch in Down Under.

Peter Bennett, 82, ist einer von ihnen, ein Zeitzeuge der letzten großen Auswanderungswelle im Rahmen der „Child Migration Schemes“. Der pensionierte Farmarbeiter lebt mit seiner Familie in Sydney, der Stadt seiner Ankunft. Er arbeitet ehrenamtlich im Australien National Maritime Museum in Darling Harbour. Seit 2006 erinnert hinter dem Museum eine Skulptur aus Kinderfiguren mit Koffern an Bennetts Schicksal und das seiner abertausend Leidensgenossen.

„Viele Kinder glaubten, sie würden für zwei Wochen in die Ferien geschickt, und Australien sei um die Ecke“, erzählt er leise bei unserem Treffen am Denkmal. „Die Stimmung auf den Schiffen war ja auch zuerst ganz ausgelassen.“ Bennetts Blick gleitet hinüber zu den Ausflugsdampfern, die durch die Bucht schippern. Dann zeigt er auf ein gut 100 Meter langes Monument direkt am Wasser, „The Welcome Wall“, auf der listenweise Namen von Einwanderern eingraviert sind, und sagt: „Für 150 Australische Dollar können auch Kindermigranten ihre Namen verewigen lassen – ein teurer Spaß für Menschen, die zwangsweise verschifft wurden und oft nicht einmal ihre richtigen Namen kennen.“ Peter Bennetts Name steht nicht auf der Bronzetafel. Er hält lieber Vorträge, bei denen er seine furchtbare Geschichte erzählt. Peters Mutter hatte ihren ersten Mann für seinen Vater verlassen. Aber das neue Glück hielt nicht lange. Peter und seine Schwester wurden in ein Kinderheim nach Birmingham gegeben und sofort für die Verschickung in die Kolonien gelistet. Beide kamen zum Glück auf demselben Schiff in dieselbe Gegend; das war nicht bei allen Geschwistern so.

Einen hübschen Koffer drückten die Helfer den Kindermigranten bei der Abfahrt in die Hand, gefüllt mit neuer Kleidung, die sie nach der Ankunft meist sofort wieder abzugeben hatten – für die nächste Schiffsladung voller Kinder aus Europa. Die kleinen Einwanderer sollten in Australien zeigen, wie gut ihr Mutterland Großbritannien für sie sorgt, mit glänzenden Lederschuhen, weißen Hemdkrägen, Kleidchen und Hüten posierten sie  für die Presse. Die Zeitungsberichte dieser Jahre klangen vielversprechend: „Boys will start a new life in ‚Down Under‘.“ „Es ging aber nicht um ein besseres Leben“, so Peter Bennett, „der Bestand an gutem, weißem Nachwuchs sollte in Australien aufgestockt werden.“

Bennett zeigt Fotos von der Fairbridge Farm School in Molong, New South Wales, die er zehn Jahre besucht hat. „Ich war bei der Ankunft sechs Jahre alt und sehr verängstigt. Nachts habe ich ins Bett gemacht; jeden Morgen musste ich die feuchten Decken vor aller Augen aufhängen. Das war demütigend.“ Er erzählt, wie er stundenlang Kaninchen schlachten musste, um Geld zu verdienen. Wie er in der Molkerei schuftete und immer wieder aufs Ohr geschlagen wurde, wenn ihm etwas nicht gelang. „Davon ist mein Trommelfell zerstört. Ich habe heute noch Schmerzen und höre schlecht. Aber das Schlimmste für unsere Zukunft war, dass wir die Farm School ohne Abschluss verlassen mussten.“ Viele blieben Analphabeten.

„Sie haben das Paradies versprochen, aber für die meisten von uns wurde Australien zur Hölle.“ Tränen schießen Bennett in die Augen, der große alte Mann weint. Es scheint, als könne er auch nach all der Zeit nicht fassen, was ihm passiert ist. „Viele von uns haben Jahrzehnte gebraucht, um herauszufinden, warum sie überhaupt auf den Schiffen gelandet sind. Ich selbst konnte erst vor wenigen Jahren mithilfe einer außergewöhnlichen Frau etwas über meine Familie erfahren und bin dann sofort nach England geflogen.“

Die Frau heißt Margaret Humphreys. Sie hat die Grausamkeiten der britischen Kinderverschickung ans Licht gebracht. Alles begann Ende 1986 mit einem Brief. Humphreys, Sozialarbeiterin aus Nottingham, half damals Menschen, die als Kinder zur Adoption freigegeben worden waren und Angehörige suchten. Eine Frau schrieb ihr aus Adelaide, South Australia, sie sei gebürtige Engländerin und Vollwaise, die ersten Jahre ihres Lebens habe sie in einem Kinderheim in Nottingham gelebt. Mit vier Jahren habe man sie mit anderen Kindern nach Australien geschickt. Mehr wisse sie über die Umstände ihrer Ausreise nicht, sie leide sehr darunter und sei seit vielen Jahren auf der Suche nach Angehörigen in Großbritannien.


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mare No. 115

No. 115April / Mai 2016

Von Martina Hinz

Eigentlich wollte die Berliner Journalistin Martina Hinz in Australien mit Walhaien schwimmen und auf Fraser Island zelten. Eine kleine Wanderausstellung über die Verschickung britischer Kinder durchkreuzte ihre Pläne. Mithilfe der australischen Immigrationsforscherin Kim Tao fand sie drei Überlebende, die ­bereit waren, mare von ihrem Schicksal zu erzählen.

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Vita Eigentlich wollte die Berliner Journalistin Martina Hinz in Australien mit Walhaien schwimmen und auf Fraser Island zelten. Eine kleine Wanderausstellung über die Verschickung britischer Kinder durchkreuzte ihre Pläne. Mithilfe der australischen Immigrationsforscherin Kim Tao fand sie drei Überlebende, die ­bereit waren, mare von ihrem Schicksal zu erzählen.
Person Von Martina Hinz
Vita Eigentlich wollte die Berliner Journalistin Martina Hinz in Australien mit Walhaien schwimmen und auf Fraser Island zelten. Eine kleine Wanderausstellung über die Verschickung britischer Kinder durchkreuzte ihre Pläne. Mithilfe der australischen Immigrationsforscherin Kim Tao fand sie drei Überlebende, die ­bereit waren, mare von ihrem Schicksal zu erzählen.
Person Von Martina Hinz