Der aufrechte Gang der Docker

Die Stauer von Liverpool haben ihren härtesten Arbeitskampf verloren. Zu Besuch ein Jahr danach

Vom anderen Ufer des Mersey sieht man den Verfall der Stadt nicht. Man sieht nicht die zugemauerten Eingänge der Häuser, die zerbrochenen Fensterscheiben, die schäbigen Eckläden und die mit Schlaglöchern übersäten Straßen. Liverpool ist eine arme Stadt. Von den 470000 Einwohnern sind dreimal mehr arbeitslos als im Landesdurchschnitt.

Billy Jenkins ist einer von ihnen. Bis vor drei Jahren hat er im Hafen gearbeitet. Der 51jährige lebt in Wallasey, gegenüber von Liverpool, nur wenige Schritte vom Mersey entfernt. „Von ganz da hinten“, sagt er und zeigt nach rechts zur Stadtgrenze, „bis zur Mündung des Flusses reichten früher die Hafenanlagen. Es gab hundert Docks*, heute werden die meisten Container in drei neueren Anlagen abgefertigt.“ Damals hat er auf der anderen Seite des Flusses im Hafenviertel gelebt. „Vater brachte uns in den Ferien zu Tagesausflügen nach Wallasey. Es gab eine Fähre, ‚Gerry and the Pacemakers‘ haben ein Lied darüber gemacht: Ferry across the Mersey. Und hier, gleich hinter der Pier, wohnte bis vor einigen Jahren Paul McCartneys Tante. Er und Linda haben sie oft besucht, und abends saßen sie manchmal im Ferry-Pub nebenan.“

Jenkins’ Vater lieh sich später etwas Geld von seinem Bruder, der war Seemann und verdiente gut. Mit dem Kredit kaufte die Familie das Haus in Wallasey. „Der Strand hatte schneeweißen Sand, das glaubt man heute kaum“, sagt Jenkins. „Die Ölraffinerie flussaufwärts am Manchester-Kanal hat den Mersey verdreckt, es ist der schmutzigste Fluss der Welt.“ Die Reichen sind weggezogen, viele wohnen jetzt im alten Hafenviertel, wo die Docks den Luxusapartments weichen mussten. „Robbie Fowler lebt da drüben“, sagt Jenkins, „der Mittelstürmer des FC Liverpool. Ich gönne es ihm, er hat uns Dockern während des Streiks sehr geholfen und viel dafür riskiert.“ Als er bei einem Europapokalspiel ein Tor erzielt hatte, riss sich Fowler das Trikot vom Leib. Darunter kam das T-Shirt mit der Abwandlung des Signets von Calvin Klein zum Vorschein: „Support the DoCKers“, „Unterstützt die Hafenarbeiter“. Fowler bekam dafür eine hohe Geldstrafe vom Fußballverband aufgebrummt. „Er hat seine Wurzeln nicht vergessen“, sagt Jenkins, „denn sein Vater war auch Docker. In jeder Familie gab es früher einen Docker.“

Noch vor 40 Jahren arbeiteten 25000 Menschen im Hafen. Die erste Anlage für Frachtschiffe, das Old Dock, wurde 1715 am Canning Place gebaut. Im 18. Jahrhundert verfünfzigfachte sich die Zahl der Schiffe, die Liverpool anliefen. Um 1900 wurden Waren im Wert von fast 240 Millionen Pfund umgeschlagen, nach heutigem Wert wären das viele Milliarden. 1911 legte ein Streik der Transportarbeiter die ganze Stadt lahm. Mit dem Streik begonnen hatten die Docker, weil die Unternehmer von den Tagelöhnern mehr Arbeit für weniger Lohn forderten, und die Docker gehörten zu den letzten, die ihre Arbeit wieder aufnahmen. „Es war die revolutionärste Situation, die ich in England jemals erlebt habe“, schrieb damals der bekannte „Times“-Reporter Philip Gibbs.

Der Streik blieb freilich erfolglos, das Prinzip des Tagelohns wurde beibehalten. Die Docker gingen morgens zum Hafen, wo sie in einer Art Pferch auf den Vorarbeiter warten mussten. Wenn er kam, begann das Gerangel um die wenigen Jobs. Wer nicht durch einen Schlag auf die Schulter ausgewählt wurde, bekam auch keinen Lohn. Die anderen arbeiteten von sieben Uhr früh bis zehn Uhr nachts. Viele schliefen gleich im Pferch, damit sie am nächsten Morgen nicht zu spät kamen.

Erst 1967, nach einem Streik, wurde der Tagelohn in den britischen Häfen abgeschafft. Das Hafenregister garantierte den eingetragenen Dockern fortan Arbeit und Lohn. Dann kam Margaret Thatcher. Ihre marktradikale Tory-Regierung schaffte das Register 1989 wieder ab, das Prinzip des Tagelohns feierte Wiederauferstehung: Wenn kein Schiff da ist, gibt es keine Arbeit und keinen Lohn.

Thatchers Vorstoß quittierten die Hafenarbeiter des Königreichs mit einem landesweiten Streik. Er scheiterte. Nur in Liverpool, wo der Arbeitsboykott der Gewerkschaften am längsten dauerte, konnten sich die Unternehmer nicht durchsetzen. Den Hafenarbeitern gelang es, ihre festen Arbeitsverhältnisse und ihre gewerkschaftliche Organisation zu verteidigen.

Es war nur eine Galgenfrist. Die Hafengesellschaft, die Mersey Docks and Harbour Company (MDHC), verschärfte Stück für Stück die Arbeitsbedingungen. „Colin arbeitete im Hafen, seit er 15 war“, sagt Sue Mitchell. „Jetzt ist er 49. Wir haben vor 19 Jahren geheiratet, ich wurde bald darauf schwanger und gab meine Stelle bei der Bank auf, Colin verdiente ja gutes Geld. Dann, 1993, legten sie ihm einen neuen Vertrag vor. Wenn er nicht unterschreiben würde, wollten sie ihn auf die Straße setzen. Er musste dann immer abrufbereit sein, rund um die Uhr, auch am Wochenende und an Feiertagen – 365 Tage im Jahr. Er wusste nie, wann seine Schicht begann.

Manchmal musste er 24 Stunden arbeiten. Sie riefen ständig bei uns an, und wenn er nicht da war, fragten sie mich oder die Kinder nach ihm aus, als ob Colin etwas verbrochen habe. Es war ein Alptraum. Unser ältester Sohn hatte 1991 einen Autounfall, seitdem ist er schwerbeschädigt und braucht Pflege, aber Colin war fast nie zu Hause. Seine Gesundheit litt, und unser Familienleben auch.“

Als die Docker in geheimer Abstimmung das Ansinnen zurückwiesen, auch noch den Überstundenzuschlag abzuschaffen, inserierte die Hafengesellschaft MDHC in der Lokalzeitung, dass sämtliche Stellen im Hafen neu besetzt werden sollten. 2000 Leute kamen zum Vorstellungsgespräch, keiner bekam einen Job. Das Inserat war als Drohung gemeint. „Sie wollten die Docker damit provozieren“, sagt Sue Mitchell. „Und beim nächsten Versuch haben sie es geschafft.“

Bei Torside, einer Kontraktfirma von MDHC, fing es an. Am 28. September 1995 kam der Vorarbeiter nach Arbeitsende und ordnete an, dass 20 Docker der Schicht weiterarbeiten sollten – ohne die bisherige Überstundenzulage. Als die Docker sich weigerten, griff der Vorarbeiter willkürlich fünf Männer heraus und feuerte sie. Die anderen protestierten und wurden ebenfalls kurzerhand entlassen.

Am nächsten Morgen standen alle 80 Torside-Arbeiter an der Hafeneinfahrt. „Kein Docker würde an einem Streikposten vorbeigehen“, sagt Sue Mitchell aus jahrzehntelanger Erfahrung, und so blieben auch die anderen 420 Docker an der Hafeneinfahrt stehen – und wurden gefeuert. Die Branchenzeitung der Reedereien, „Lloyd’s List“, hatte die Liverpooler Docker noch zwei Wochen zuvor als „produktivste Arbeiterschaft in Europa“ bezeichnet.

Nun heuerte die Hafengesellschaft Streikbrecher an, meist ehemalige Soldaten aus anderen Landesteilen. Die Mitchells hätten fast ihr Haus in Blundell Sands ganz in der Nähe des Hafens verloren, weil sie den Kredit für das Auto, das sie wegen ihres behinderten Sohnes angeschafft hatten, nicht zurückzahlen konnten. Doch der Richter hatte Verständnis und stundete die Raten.

„Ich wusste nicht, wie es weitergehen würde“, sagt Sue Mitchell. „Unsere Ehe wäre beinahe daran kaputtgegangen.“ Damals war sie drauf und dran, sich von ihrer Familie zu trennen. Es kam der Tag, als sie verzweifelt aus dem Haus rannte. Da schlug ihr behinderter Sohn immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand. In diesem Moment wurde Sue Mitchell klar, dass sie das alle gemeinsam durchstehen mussten. „Als ich zum ersten Mal Streikposten stand, war ich nervös, weil ich das Gefühl hatte, in die Domäne der Männer einzudringen. Die Docks waren nie ein Ort für Frauen. Doch dann traf ich vor den Hafentoren andere Dockerfrauen, die auch nicht untätig zu Hause sitzen wollten.“ Die Frauen schlossen sich zu den „Women of the Waterfront“ zusammen, den Frauen von der Küste – kurz: WOW! Bis der Streik losging, war keine von ihnen politisch aktiv gewesen. Nun organisierten sie Treffen im Gewerkschaftshaus, sprachen auf Veranstaltungen im ganzen Land, gaben Interviews im Radio und Fernsehen. Und jeden Tag standen sie an der Hafeneinfahrt mit ihren Plakaten: „Scabs out!“ – Streikbrecher raus.


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mare No. 12

No. 12Februar / März 1999

Von Ralf Sotscheck und Andrew Testa

Ralf Sotscheck, 1954 in Berlin geboren, ist langjähriger Korrespondent der tageszeitung für Großbritannien und Irland. Er lebt seit 1985 in der irischen Hauptstadt Dublin und hat mehrere Bücher über Irland verfasst. Im Frühjahr 1999 erscheint im Nautilus-Verlag, Hamburg, eine neue Kolumnensammlung. In mare No. 2 schrieb er über Fish-and-Chips.

Andrew Testa, 1965 in London geboren, arbeitet seit 1982 als freier Fotograf. Er erhielt 1994 den World Press Photo Award und 1996 den Nikon Photo Essay Award. 1997 war er One World News Photographer. Die Fotoreportage über die Docker begann als Projekt für die World Press Photo Masterclass, das im letzten Jahr auf Ausstellungen in Rotterdam und Amsterdam gezeigt wurde. Dies ist Testas erste Veröffentlichung in mare

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Vita Ralf Sotscheck, 1954 in Berlin geboren, ist langjähriger Korrespondent der tageszeitung für Großbritannien und Irland. Er lebt seit 1985 in der irischen Hauptstadt Dublin und hat mehrere Bücher über Irland verfasst. Im Frühjahr 1999 erscheint im Nautilus-Verlag, Hamburg, eine neue Kolumnensammlung. In mare No. 2 schrieb er über Fish-and-Chips.

Andrew Testa, 1965 in London geboren, arbeitet seit 1982 als freier Fotograf. Er erhielt 1994 den World Press Photo Award und 1996 den Nikon Photo Essay Award. 1997 war er One World News Photographer. Die Fotoreportage über die Docker begann als Projekt für die World Press Photo Masterclass, das im letzten Jahr auf Ausstellungen in Rotterdam und Amsterdam gezeigt wurde. Dies ist Testas erste Veröffentlichung in mare
Person Von Ralf Sotscheck und Andrew Testa
Vita Ralf Sotscheck, 1954 in Berlin geboren, ist langjähriger Korrespondent der tageszeitung für Großbritannien und Irland. Er lebt seit 1985 in der irischen Hauptstadt Dublin und hat mehrere Bücher über Irland verfasst. Im Frühjahr 1999 erscheint im Nautilus-Verlag, Hamburg, eine neue Kolumnensammlung. In mare No. 2 schrieb er über Fish-and-Chips.

Andrew Testa, 1965 in London geboren, arbeitet seit 1982 als freier Fotograf. Er erhielt 1994 den World Press Photo Award und 1996 den Nikon Photo Essay Award. 1997 war er One World News Photographer. Die Fotoreportage über die Docker begann als Projekt für die World Press Photo Masterclass, das im letzten Jahr auf Ausstellungen in Rotterdam und Amsterdam gezeigt wurde. Dies ist Testas erste Veröffentlichung in mare
Person Von Ralf Sotscheck und Andrew Testa