Der Alte und das Meer

In der Nähe von Havanna lebt ein uralter Fischer. Er war das Vorbild für Hemingway's berühmte Buchgestalt Santiago – sagt er

Die kleinen Strassen von Cojimar schwitzen, Geier taumeln vor gleißenden Kumuluswolken über der Bucht. Wer im Dorfrestaurant „La Terraza“ nach dem 101jährigen Gregorio Fuentes fragt, etlichen Reiseführern zufolge Ernest Hemingways Vorbild für seine Geschichte „Der alte Mann und das Meer“, dem wird sogleich die Adresse genannt: „Calle 98, Nr. 209, Gregorio wohnt zwei Ecken von hier.“ Da fällt der Blick auf ein markantes Foto an der Wand – ein bejahrter Fischer mit Panamahut auf einem Steg. Der Kellner erläutert: „Anselmo, der alte Mann aus Hemingways Buch. Anselmo lebt nicht mehr.“ Zweifel werden wach. Noch ein „alter Mann“? Und gab nicht Hemingway selber einmal zu Protokoll: „Eine Menge Leute haben behauptet, dieser oder jener sei der alte Mann... Es ist eine große Eselei.“

Durch den Türspalt von Gregorios Häuschen ist im Schatten der Wohnstube eine reglose Gestalt erkennbar. Doch Gregorios Enkel Rafael, Mitte Vierzig, versperrt mit seinem Arm den Weg. 50 US-Dollar will Rafael für das Gespräch, vier kubanische Monatsgehälter für 15 Minuten. Der hochgewachsene Alte im Schaukelstuhl da drinnen muss Gregorio sein, eine Baseballkappe mit den gelben Lettern „Capitán“ auf dem Kopf, die Hände vor dem Bauch gefaltet. Milde wie ein behütender Geist schaut über die linke Schulter des Yachtkapitäns ein Gemälde-Hemingway. Hier also residiert der Fischerkumpan des Nobelpreisträgers, betagter als das Jahrhundert, und raucht verträumt, wie sich herausstellt, seine drei, vier Havannas täglich. Ein lebendiges Schaustück. Früher empfing er im „Terraza“, nach einem Schlaganfall nur noch zu Hause.

Wir haben uns finanziell geeinigt. Knapp und freundlich ist die Begrüßung durch den einstigen Kapitän der „Pilar“, seine Stimme zittert nicht im geringsten. Die ungeheure Zeitspanne des Lebens hat Gregorios Gesicht in die Länge gezogen, die Ohren, die Nase. Inmitten zahlloser Altersflecken schimmern überaus wache Augen. Lagunenblau. Wie zum Beweis, dass Gregorio tatsächlich der Fischer Santiago aus Hemingways Erzählung ist, zitiert Enkel Rafael – aufdringlich oft – den berühmten Satz: „Alles an ihm war alt bis auf die Augen.“

1928 sind sie sich zum ersten Mal begegnet, Gregorio Fuentes und Romancier Hemingway. Der ambitionierte Sportangler war vor Florida in Seenot geraten. „Señor Hemingway bat um Hilfe, wir nahmen ihn an Bord“, berichtet Gregorio. Jahre darauf, als sich die beiden auf Kuba trafen, bot Hemingway seinem Retter an, für Bootstouren von Cojimar aus die „Pilar“ zu übernehmen, um Schwert- und Thunfische zu jagen.

Das tausendfache Erzählen hat die Schnörkel von Gregorios Rede abgeschliffen, denn seit Jahren pilgert eine wachsende Zahl Neugieriger zu ihm. Wenn Enkel Rafael routiniert das Gespräch an sich reißt, sinkt der Alte in sich zurück. Entrückt sitzt er da, ein greises Kind, neben sich nie welkende Kunstsonnenblumen. Wie heißt es doch bei Hemingway über seinen Helden Santiago? „Danach begann er von dem langen gelben Strand zu träumen, und dann sah er den ersten Löwen in der frühen Dunkelheit herunterkommen... Er war glücklich.“ Doch immer wieder beugt sich der Schwerhörige plötzlich vor, späht durch die Fensterlamellen, sobald er Geräusche vernimmt. Minutenlang steht draußen ein Bus mit laufendem Motor. Durch die getönten Scheiben versuchen Touristen einen Blick auf Hemingways allseits bekannten Kapitän zu erhaschen.

Wer kennt nicht den Kampf des Fischers Santiago mit dem gewaltigen Marlin, weltberühmt geworden durch die Hollywood-Verfilmung von 1956 mit Spencer Tracey. Nach nächtelangem Kräftemessen kehrt Santiago schließlich mit dem von Haifischen abgenagten Riesenskelett heim. Hemingway hat mit seiner Fabel die Botschaft des existenzialistischen Machismo gestaltet: „Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben.“

Ist Gregorio der sagenhafte Santiago? Auf jeden Fall reklamiert er den Titel des Buches für sich. Nachdem er und Hemingway draußen im Golf einem alten Fischer – ein weiterer alter Mann! – mit einem abgenagten Fischskelett begegnet wären, sann Hemingway darüber nach, wie eine mögliche Story heißen könnte. Gregorio lächelt hintergründig: „Da habe ich Señor Hemingway den Titel ,Der alte Mann und das Meer‘ vorgeschlagen.“

Wer so an der Weltliteratur mitgeformt hat, was bleiben dem noch für Wünsche? Gregorio wehrt ab: „Ich denke nie über Wünsche nach. Außer, dass die USA ihre Blockade von Kuba beenden sollen.“ Unbeugsamer Zorn auch im hohen Alter. Sanfter fügt er hinzu: „Und dass ich genügend Dollars habe, um mir meine Medizin zu kaufen.“

Sagen wir so: 70 Jahre Ehe haben eine große Familie hervorgebracht, vier Töchter, viel mehr Enkel und eine unübersehbare Schar von Urenkeln. Und alle möchten versorgt sein. Vorletztes Jahr ging es endlich mit Kind und Kegel auf die Kanarischen Inseln, wo Gregorio am 11. Juli 1898 geboren wurde. Aber ist er nun wirklich der alte Mann? Bei dieser Frage, die das Familieneinkommen ernsthaft berührt, übernimmt Enkel Rafael die diplomatische Antwort: „Hemingway hat Gregorios Charakter ebenso wie den der anderen Fischer aus Cojimar, darunter auch einer namens Santiago, zu einer Person verarbeitet.“ Mindestens noch ein alter Mann also, hmmm. Unsere Zeit ist abgelaufen. Egal. Anselmo, Gregorio, Santiago – es gibt halt viele alte Männer und das Meer.

mare No. 13

No. 13April / Mai 1999

Von Thomas Worm und Oliver L. Lwowski

Thomas Worm, Jahrgang 1957, lebt als freier Autor in Berlin und schreibt Reisereportagen.

Oliver Lille Lwowski ist Fotograf und lebt in Hamburg.

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Vita Thomas Worm, Jahrgang 1957, lebt als freier Autor in Berlin und schreibt Reisereportagen.

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