Das zweite Leben der „America“

Ein Luxusliner strandet vor Fuerteventura. Die Anwohner nutzten die Gunst der Stunde und horten seither die Schätze des Schiffs

Es gibt eine Zeit vor dem Schiff und eine danach“, sagt Antonio Gonzalez-Caunedo. In seinem Wohnzimmer dreht er am Schiffssteuerrad und blickt durch eine Panoramascheibe aufs Meer. Ein gewaltiger Ozeanriese bahnt sich den von Antonio bestimmten Kurs durch die See. Ähnlich zumindest muß der pensionierte Soldat empfinden, wenn er manchesmal für sich allein hier oben weilt: auf seiner Kommandobrücke.

So steht da, wer versäumt hat, den in Kindheitstagen verklärten Traumberuf rechtzeitig zu verwirklichen. Antonio wäre besser zur See gefahren. Und wie oft hatte ich nicht früher selbst die eigenen vier Wände gedanklich zur Schiffsbrücke umfunktioniert. Regelmäßig galt es dann für die gesamte Besatzung schicksalhafte Entscheidungen zu treffen, wenn der erdachte Dampfer in Not geraten war.

Antonio freilich hat in reiferem Alter diesen jugendlichen Spleen mit beispiel-loser Perfektion in Szene gesetzt, in seinem Haus an der Ostküste der Kanareninsel Fuerteventura. Neben dem Steuerrad weilen zwei Maschinentelegraphen, an anderer Stelle hängen lilienförmige Art-déco-Lampenschirme oder Schilder mit den Namen von Schiffsdecks, gegossen als massive Messingbeschläge: Poseidon-Deck, Atlantic-Deck. „Manches scheint gemacht für die Ewigkeit“, kommentiert Antonio die übersolide Konstruktion. Und er habe es als seine Pflicht empfunden, fährt er mit ernster Miene fort, vor allem diesem Steuerruder dauerhaft den Ausblick aufs Meer zu garantieren. Nach fünfundfünfzig Jahren Dienstzeit auf der Brücke eines legendären Ozeanriesen habe das Gerät einen angemessenen Ruhestand verdient.

Keiner seiner einstigen Kumpane habe die Bedeutung dieses altgedienten Navigationsinterieurs begriffen. Wie ein haltloses Völkchen primitiver Strandpiraten hätten sie sich aufgeführt, als sie das Schiff plünderten, erzählt er. Als sei es einer seiner persönlichsten Vertrauten, streicht er mit seiner knöchernen Hand über das polierte Metall eines der beiden akribisch restaurierten Maschinentelegrafen. Dann öffnet er die Glastür zur Veranda. In ihrer Größe wirkt der Balkon vor der Panoramascheibe wie das Vordeck eines Dampfers.

Es war der 23. Dezember 1993, als das letzte und traurigste Kapitel in der Geschichte der „American Star“, der schwimmenden Legende, begann. Das Steuerruder, jetzt in Antonios Wohnzimmer, stand damals noch auf der Kommandobrücke des Dampfers, der arbeitslos in der Bucht von Eleusis dümpelte. Das wirtschaftliche Aus hatte den einst stolzen Transatlantikliner, ursprünglich die „America“ der United States Lines, bereits über ein Jahrzehnt zuvor ereilt. In seiner wechselhaften Karriere hatten alle Eigner auf den Einbau eines kostensparenden Dieselantriebs verzichtet. Als das Schiff schließlich Anfang der achtziger Jahre seine letzte Reise aus eigener Kraft unternahm, waren die zusammen 37400 PS starken Dampfturbinen aus den späten dreißiger Jahren bestenfalls noch für sentimental gestimmte Maschinenbauer eine Attraktion.

Dem griechischen Reeder Anthony Chandris, der das Schiff unter dem Namen „Italis“ für Mittelmeerkreuzfahrten einsetzte, lieferten sie indes immense Treibstoffrechnungen. So zog er den Dampfer schließlich aus dem Verkehr. Doch obwohl das Schiff über die Jahre äußerlich immer mehr zu verrotten drohte, bot sich jedem, der in dieser Zeit das Glück besaß, an Bord kommen zu können, innen ein regelrecht verzaubernder Anblick.

Nichts war seit dem Ende der letzten Reise verändert. Selbst die Federbetten in den Kabinen waren noch bezogen. Die Garderobe manchen Besatzungsmitglieds hing geordnet im Spind. Das vollständig erhaltene Mobiliar aus beschwingteren Tagen ruhte im Halbdunkel der Grand Lounge, an deren Wänden gelackte, vereinzelt goldfarbene Intarsienarbeiten schillerten. Über zwei Decks erstreckte sich diese Pracht. Die oberen Logen säumten schwere, wellen- und girlandenverzierte Messinggeländer.

Trotz vieler Umbauten, denen sich dieses Schiff über die Jahre ausgesetzt sah, war es dennoch in den großen Gesellschaftsräumen architektonisch stilecht erhalten geblieben. Im Dämmerzustand ruhte hier ein unberührtes Szenario aus der Ära der großen Passagierdampfer der Nachkriegszeit.

In jenem Dezember 1993, zwei Tage vor Weihnachten, bezogen vier Besatzungsmitglieder des russischen Hochseeschleppers „Neftegaz 67“ in der Kapitänskajüte des Luxusliners Quartier. Einen Tag später begann mit dem inzwischen „American Star“ geheißenen Dampfer die Schleppfahrt zum Ausschlachten im thailändischen Phuket. Wohl aus Kostengründen, so mag man spekulieren, sahen die neuen Eigner von der sicheren, aber teureren Abkürzung via Suezkanal ab. Statt dessen passierten die beiden Schiffe am 12. Januar 1994 auf ihrer über 18000 Seemeilen langen Reiseroute, die um Afrika herumführen sollte, am 12. Januar 1994 Gibraltar. Vier Tage später gerieten beide Schiffe, vielleicht nicht ganz unvorhergesehen, nordwestlich der Kanarischen Inseln in die Ausläufer eines Sturmtiefs.

Schon bald sahen sich die vier Besatzungsmitglieder mit ihrer Aufgabe, an Bord Notwendigstes für die Sicherung des alten Schiffs zu leisten, hoffnungslos überfordert. In den frühen Morgenstunden des 17. Januars erreichte der Sturm Orkanstärke. Der Veteran ächzte unter der Belastung haushoher Wellen, die über die Decks schlugen. Schließlich riß die Schleppverbindung. Haltlos schlingerte der rostige Koloß manövrierunfähig in der tobenden See. Gegen Abend desselben Tages war das Schiff keine zehn Seemeilen mehr von der Westküste Fuerteventuras entfernt.

In diesem Moment wäre er gerne an Bord gewesen, verraten die strahlenden Augen Antonios. Er steht neben einer kunstvoll aus Aluminium gefertigten Weltkarte aus der Grand Lounge der „American Star“, die er in eine Seitenmauer seiner Terrasse eingelassen hat. „In jener Nacht hat nichts an Bord mehr richtig funktioniert“, meint Antonio. An dem Steuerrad, das heute in seinem Wohnzimmer steht, mögen die Seeleute damals vergeblich gedreht haben. Auf der Aluminiumkarte suche ich die letzte Position des Schleppzugs vor Fuerteventura. Dabei entdecke ich die Überreste einer ausgeklügelten Magnettechnik, mit der ein von der Brücke aus verschiebbares Modellschiffchen den Passagieren stets die aktuelle Position des Dampfers anzeigte.

In diesem Augenblick hebt ohrenbetäubend ein Touristenbomber vom Rollfeld ab. In südlicher Richtung ist der Flughafen von Puerto del Rosario, der kleinen Inselkapitale Fuerteventuras, auszumachen. Die Maschine dröhnt über Antonios Anwesen. „Die vier Besatzungsmitglieder konnten damals noch in derselben Nacht von einem Rettungshubschrauber der spanischen Marine von Bord evakuiert werden“, schreit Antonio. Am Himmel schwenkt das Flugzeug in Richtung Europa ab. Mich erinnert der Anblick dieses lärmenden Luftungeheuers an ein anderes Kapitel aus der Geschichte des Dampfers: Rund um Antonios Interieur von der „American Star“ ist hier jene technische Konkurrenz dauerhaft gegenwärtig, die im Oktober 1964 dafür sorgte, daß der damalige Luxusliner zum Schleuderpreis an Chandris nach Griechenland verkauft wurde. Die Reedereien der Transatlantikroute waren in jener Zeit finanziell längst in die Bredouille geraten. Immer mehr Transatlantikreisende entschieden sich für das Flugzeug und verzichteten auf das Schiff.

Der Flaggenwechsel nach Griechenland bedeutete für den Ozeanriesen den Anfang vom Ende. Wo ehedem an Bord Größen aus Politik und Kultur bei pompösen Dinners zwar elitärer, aber prägnanter Lebenslust frönten, fanden sich Mitte der sechziger Jahre weit bescheidenere Gäste ein. Umbenannt in „Australis“, wurde der Dampfer zum Einklassenschiff für ein weniger zahlungskräftiges Publikum umgestaltet. Anstelle alter Luxussuiten dienten neue Vierbettkabinen als Reiseunterkunft auf Kreuzfahrten, deren Ziele vor allem Australien und die attraktiven Südseehäfen waren.

Erbarmungslos brennt an diesem Nachmittag die Sonne in die Avenida 1. de Mayo. Von seinen Kumpanen habe keiner die Chance begriffen, wiederhole ich in Gedanken Antonios Worte. Doch als ich in der Hauptstraße Puerto del Rosarios an der Ecke Calle Jesus y Maria eine Bar mit Namen „El Naufragio“ („Der Schiffbruch“) betrete, werde ich eines Besseren belehrt: Bullaugen und vollständige messinggerahmte Glastüren des Promenadendecks sind als Fenstergalerien in die Außenwände des Raumes integriert. Teile der Reling, Schwimmwesten, gerahmte Deckspläne, ja die Toilettenschüsseln und Waschbecken, die Wasserhähne, selbst die für eine Kneipe behördlich vorgeschriebenen Feuerlöscher sind von Bord der „American Star“ – und noch intakt.


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mare No. 13

No. 13April / Mai 1999

Von Elmar Hess, Björn Lux und Frank Wache

Elmar Hess, 1966 geboren, studierte an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Auf Ausstellungen zeigt er seit 1991 Installationen vor allem zur Passagierfahrt. 1992 bis 1994 entstand der Film Relation Ship (45 Minuten) über den Dampfer „United States“.

Björn Lux, geboren 1967, und Frank Wache, geboren 1965, sind Mitglieder der Agentur Focus. Sie erarbeiten ihre Fotoreportagen oft im Team. Für Autor und Fotografen ist dies die erste Veröffentlichung in mare

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Vita Elmar Hess, 1966 geboren, studierte an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Auf Ausstellungen zeigt er seit 1991 Installationen vor allem zur Passagierfahrt. 1992 bis 1994 entstand der Film Relation Ship (45 Minuten) über den Dampfer „United States“.

Björn Lux, geboren 1967, und Frank Wache, geboren 1965, sind Mitglieder der Agentur Focus. Sie erarbeiten ihre Fotoreportagen oft im Team. Für Autor und Fotografen ist dies die erste Veröffentlichung in mare
Person Von Elmar Hess, Björn Lux und Frank Wache
Vita Elmar Hess, 1966 geboren, studierte an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Auf Ausstellungen zeigt er seit 1991 Installationen vor allem zur Passagierfahrt. 1992 bis 1994 entstand der Film Relation Ship (45 Minuten) über den Dampfer „United States“.

Björn Lux, geboren 1967, und Frank Wache, geboren 1965, sind Mitglieder der Agentur Focus. Sie erarbeiten ihre Fotoreportagen oft im Team. Für Autor und Fotografen ist dies die erste Veröffentlichung in mare
Person Von Elmar Hess, Björn Lux und Frank Wache