Das Watt muss weg

Unglaublich, aber wahr: Noch Mitte der 1970er-Jahre befanden Inge­nieure in einer Studie im Auftrag des Bundesforschungsminis­te­riums, dass das deutsche Wattgebiet ein idealer Standort für Atomkraftwerke sei

Das Wattenmeer erwies sich als idealer Standort. Schäden befürchtete man kaum. Zwar rechneten die Experten mit einer „Verlustrate der vom Kühlsystem erfassten Fischlarven von 100 Prozent“. Ansonsten hielten sie „die sich aus dem Betrieb eines Atomkraftwerkes in der maritimen Umwelt ergebenden Sicherheitsanforderungen“ für „beherrschbar“.

Eigentlich wäre die Südspitze von Sylt bei Hörnum perfekt für den Bau eines Atomkraftwerks gewesen. Hier strömt das mächtige Hörnumtief. Jede Flut trägt frisches, kaltes Wasser durch die tiefe Rinne heran. Damit hätte es das ganze Jahr über ausreichend Kühlwasser gegeben. Doch ein Atomkraftwerk auf Sylt erschien selbst den Ingenieuren von Dornier System zu gewagt, wegen des Erholungswerts.

Besser sei der Süderoogsand, hieß es, eine Sandbank südwestlich von Pellworm. Der nahe Heverstrom habe gute Strömungsverhältnisse. Und die für die „Ver- und Entsorgung notwendigen Hafenanlagen“ befänden sich im nahe gelegenen Husum. In ihrer Studie „Kernkraftwerke im deutschen Offshorebereich“ identifizierten die Ingenieure elf „mögliche Standortgebiete“ in Nordfriesland, zwei in der Elbmündung und sechs im niedersächsischen Wattenmeer. Das Bundesforschungsministerium hatte die Studie 1974 in Auftrag gegeben. Sie sollte die Frage beantworten, ob Atomkraftwerke im Wattenmeer machbar seien und ob der Wasseraustausch ausreiche.

Die Atomkraftwerke wurden nie ge- baut. Damals hatte sich in Deutschland gerade die Anti-Atomkraft-Bewegung formiert. Und so beließ man es beim Bau der beiden neuen Atomkraftwerke Brokdorf und Brunsbüttel in der Elbmarsch, der technisch weniger aufwendig als ein Atommeiler im Watt war.

Die Idee, Atomkraftwerke im Watt zu bauen, klingt aus heutiger Sicht absurd. In den 1960er- und 1970er-Jahren aber galt das Wattenmeer als wertlose Freifläche, die wirtschaftlich zu entwickeln sei. „Das Watt wurde mit einer erstaunlichen Nonchalance und Brachialität verplant“, sagt Anna-Katharina Wöbse, Umwelthistorikerin an der Universität Gießen. „Man wollte große Teile des Wattenmeers eindeichen, landwirtschaftlich nutzen und Industrie ansiedeln.“

Zum Teil geschah das auch. Vor Friedrichskoog baute man eine Bohrinsel – mit hohen Sicherheitsstandards zwar, dennoch ein Fremdkörper im Watt. Entlang der deutschen Nordseeküste verschwanden Wattflächen hinter neuen Deichen. Die breite Mündung der Eider verriegelte man mit einem Sperrwerk. Und zwischen 1969 und 1978 deichte man die Meldorfer Bucht südlich von Büsum auf 15 Kilometer Länge ab.

Eigentlich ist der Deichbau Ländersache. Doch in der Meldorfer Bucht lief es anders. Der Bund finanzierte einen Teil des Deiches und erkaufte sich damit das Recht, dort Waffen zu erproben. So testete die Bundeswehr ab 1982 Panzerabwehrraketen und Lenkflugkörper. Man feuerte von Lafetten auf dem Deich mal den Deich entlang, mal direkt ins Watt – unweit der Vogelinsel Trischen und der Bohrinsel bei Friedrichskoog. Der Vorteil dieses Schießplatzes war die gute Sicht. Zudem zerbarsten die Projektile nicht, wenn sie im weichen Watt landeten. Blindgänger konnten die Soldaten anschließend bergen und überprüfen. Über die empfindlichen Salz- wiesen und durch das Watt rumpelte die „Eidechse“, ein Raupenfahrzeug. Anfang der 1980er schoss die Bundeswehr in der Meldorfer Bucht an 80 Tagen im Jahr. Erst mit dem Ende des Kalten Krieges reduzierte sie die Zahl der Schießtage. Bis heute hat die Bundeswehr das Recht, auf dem Deich der Meldorfer Bucht Übungen abzuhalten.

„Verglichen mit anderen Nationalparks wie dem Schweizerischen Nationalpark im Engadin ist das Wattenmeer heute noch immer stark genutzt“, sagt Hans-Peter Ziemek, Professor für Biologiedidaktik an der Universität Gießen, der gemeinsam mit Historikerin Wöbse forscht. „Man kann es als eines der letzten Naturparadiese betrachten – oder sich fragen, was hier eigentlich los ist. Man stelle sich vor, man würde im Schweizerischen Nationalpark nach Öl bohren oder Schießübungen veranstalten. Undenkbar.“


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mare No. 138

mare No. 138Februar / März 2020

Von Tim Schröder

Als Mitarbeiter der Schutzstation Wattenmeer erlebte der Oldenburger Autor Tim Schröder, Jahrgang 1970, den Bau der Bohrinsel im Watt mit. Dass das Watt einmal Unesco-Welterbe würde, war damals undenkbar.

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Vita Als Mitarbeiter der Schutzstation Wattenmeer erlebte der Oldenburger Autor Tim Schröder, Jahrgang 1970, den Bau der Bohrinsel im Watt mit. Dass das Watt einmal Unesco-Welterbe würde, war damals undenkbar.
Person Von Tim Schröder
Vita Als Mitarbeiter der Schutzstation Wattenmeer erlebte der Oldenburger Autor Tim Schröder, Jahrgang 1970, den Bau der Bohrinsel im Watt mit. Dass das Watt einmal Unesco-Welterbe würde, war damals undenkbar.
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