Das Wahllokal

Ihre Languste dürfen sich Gäste im Vivarium selbst aussuchen. Nur bei der Bouillabaisse, da redet dem Koch keiner rein

Marseille, brütend vor Hitze, aber die Küstenstraße badet in kühlem Meereslicht. Die Fischer vom Vallon des Auffes, einem Dörfchen in einer Felsenbucht im Küstensaum der Stadt, haben wie jeden Morgen dem jungen Chefkoch des „Épuisette“ das Beste vom Fang gebracht.

In einer Plastikwanne, zwischen japsenden Felsenfischen, hockt der Drachenkopf. Er bläht sich auf, öffnet das Riesenmaul im Knautschgesicht, man meint ein Fauchen zu hören. Es hilft nichts, heute kommt er in die Bouillabaisse. Der Rascasse ist der König der suppigen Seele Marseilles, er kommt in die echte Bouillabaisse von Guillaume Sourrieu.

Das Traditionsgericht der Provence war einst ein Armeleuteessen aus unverkäuflichen Fischresten, die nach dem täglichen Markt zusammengekehrt wurden. Drachenköpfen etwa. Man hielt den Fisch für eine Ausgeburt des Teufels, hässlich wie er ist. Und heute? Für Sourrieu undenkbar, eine Bouillabaisse ohne Rascasse zu kochen, und ein Frevel, mit Langusten hochzustilisieren, was auf dem Boden der Marseiller Fischmärkte begann.

An der Spitze einer Landzunge, die sich ins offene Meer schiebt, liegt das „Épuisette“, Marseilles jüngstes Sternerestaurant. Mit einem Ausblick von betörender Schönheit: der türkis glitzernde Golf, darüber das reine Azur des Himmels, die Gedanken lösen sich auf in blauer Unendlichkeit: Seine Majestät, das Mittelmeer.

In der Küche sieht man davon nichts. Sourrieu ist am liebsten in der Küche. „Ich liebe die Berge“, sagt er. Er wischt sich den Schweiß ab, tritt aus der Küche in den Speisesaal. Warmer Seewind fächelt durch die geöffneten Fenster. Er geht durch das Restaurant, setzt sich ganz nach hinten und straft das Meer mit Nichtachtung. Einer, der viel lächelt und wenig spricht.

Wenn es ihm dann doch zu blau wird, hangelt er nach dem langen Kescher, der dem „Épuisette“ den Namen gab, steigt die Stufen vom Speisesaal hinab in ein Felsgewölbe, eine Grotte, in die durch einen vergitterten Durchbruch in der Wand das Meer schwappt. Ein natürliches Vivarium, ein Krustentierkerker. „Bis zu drei Monate bleiben die Hummer und Langusten hier drin“, sagt Sourrieu.

Dämmerlicht, ein Taschenkrebs flüchtet eine Leiter hinab, Wogen schmatzen gegen den Stein. Draußen vor dem Gitter lauern Fische auf Sourrieus Hummerfutter: Küchenreste von Seeteufeln und Rotbarben.

Die Gäste können in die Grotte hinabsteigen und wählen, was auf den Teller kommt. Einmal rührte ein herausgefischtes Panzertier das Herz einer Demoiselle. Sie kaufte es, speiste aber hummerlos und entließ den Meeresritter ungemeuchelt am nächtlichen Felsen in Freiheit. Ein Witzbold aus der Küche hielt sich hier unten zwei rare Bärenkrebse: Victor und Hugo.

Vor dem „Épuisette“ erhebt sich die Festungsinsel von If. In den Kerkern des Château d’If ließ Alexandre Dumas den Grafen von Monte Cristo schmachten und die Mächtigen dreier Jahrhunderte ihre politischen Gefangenen. Mancher blickte aus seinem Verlies jahrelang auf die immergleiche Stelle im Meer. Ein Abbé verbrachte in einer fensterlosen Zelle 37 Jahre.

Dann doch lieber Krebs im „Épuisette“ sein. Die einstige Fischerhütte mit Lebendvorratskammer wurde 1940 – Marseille füllte sich gerade mit Flüchtlingen – zur Taverne. Fünf Tische gab es, Wein und Kartenspiel, Bouillabaisse und das Fischragout Bourride. Beides serviert man noch immer. Dazu Sourrieus Seeteufel mit Seeigelsauce, oft inspiriert von Orient und Nordafrika. Als seine Eltern, Algerienfranzosen, nach Marseille repatriierten, wurde Guillaume geboren, 1963. Hier, im „französischen Chicago“, wuchs er auf. „Ich hasste die Stadt.“ Mit 18, als Zehntausende Marseille verließen, ging auch er, mit dem Schwur, nie mehr zurückzukehren. Ging für 18 Jahre zu den großen Köchen, zu Troisgros, zu Loiseau. Zu Père Bise: Haute-Savoie! Montblanc! Die Berge!

Warum kam er dann zurück nach Marseille? Der Schweizer Dichter Blaise Cendrars schrieb über die Einwanderer, die aus aller Herren Länder nach Frankreich segelten: „Marseille gehört denen, die vom Meer kommen.“ Dem Meer aber gehören jene, die aus Marseille kommen. So ist das. Sourrieu seufzt, lächelt. Nach der Arbeit wird er die Straße hinaufwandern. Zu seinem neuen Haus. Mit Meerblick.


Marseiller Bouillabaisse

Zutaten (für sechs bis acht Personen)

3 kg Fisch (darunter Drachenkopf), 1 l Wasser, 0,5 l Weißwein, Pastis, 500 g Tomaten, 1 Zwiebel, 2 Möhren, 1 Porreestange, 1 Sellerieknolle, Thymian, Rosmarin, Lorbeer, Orangenschale, 10 Knoblauchzehen, Petersilie, Safran.

Zubereitung

Den Fisch ausnehmen, entschuppen, Gräten und Köpfe 5 Minuten garen, Gemüse hinzugeben und 5 Minuten sautieren. Dann Thymian, Rosmarin, Pastis, Lorbeer, Orangenschale, Knoblauch und Petersilie dazugeben, mit Wasser und Wein ablöschen und 45 Minuten köcheln lassen. Fischabfälle und Gewürze entfernen, durch ein Sieb gießen, das Gemüse pürieren, wieder zurück in den Fond, dann Fisch und Safran hineingeben und noch einmal 10 Minuten garen. Mit Rouille-Sauce servieren.


L’Épuisette
Anse du Vallon des Auffes Marseille, Frankreich
Tel. +33 04 91 52 17 82
www.l-epuisette.com
Täglich geöffnet außer samstagmittags, sonntagabends und montags.

mare No. 42

No. 42Februar / März 2004

Von Svenja Klaucke und Maurice Weiss

Svenja Klaucke studierte Philosophie und Kulturwissenschaften und schreibt als Kulturjournalistin regelmäßig für Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau und andere. Klaucke lebt in Düsseldorf, ist aber wegen ihres Leib-und-Magen-Themas Esskultur viel in Frankreich und dessen Geschichte unterwegs.

Maurice Weiss, Jahrgang 1964, lebt in Berlin. Er ist Fotograf der Agentur Ostkreuz.

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Vita Svenja Klaucke studierte Philosophie und Kulturwissenschaften und schreibt als Kulturjournalistin regelmäßig für Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau und andere. Klaucke lebt in Düsseldorf, ist aber wegen ihres Leib-und-Magen-Themas Esskultur viel in Frankreich und dessen Geschichte unterwegs.

Maurice Weiss, Jahrgang 1964, lebt in Berlin. Er ist Fotograf der Agentur Ostkreuz.
Person Von Svenja Klaucke und Maurice Weiss
Vita Svenja Klaucke studierte Philosophie und Kulturwissenschaften und schreibt als Kulturjournalistin regelmäßig für Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau und andere. Klaucke lebt in Düsseldorf, ist aber wegen ihres Leib-und-Magen-Themas Esskultur viel in Frankreich und dessen Geschichte unterwegs.

Maurice Weiss, Jahrgang 1964, lebt in Berlin. Er ist Fotograf der Agentur Ostkreuz.
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