Das verdünnte Ich

Wer sich in die Tiefe wagt, dem erschließt sich ein Ozean an neuen Eindrücken. Eine Liebeserklärung an das Tauchen

Im August 1934 erreichte bei den Bermudas eine Tauchkugel die Weltrekordtiefe von 923 Metern. In der einfachen Stahlkugel mit einem Durchmesser von 1,45 Metern befanden sich der große amerikanische Forscher William Beebe und sein Kompagnon Otis Barton. Ihre zweieinhalb Tonnen schwere Kapsel hing an einem einzigen, 2,5 Zentimeter dicken Stahlkabel. Vorkehrungen für einen Notfall gab es keine. Würde das Kabel reißen oder von der Winde rutschen, die beiden sänken bis zum Meeresgrund und erstickten dort ein paar Stunden später. Doch Beebe war die Gefahr ziemlich egal. Viel mehr zählte für ihn die faszinierende Möglichkeit, festzuhalten, was für Geschöpfe, die der Wissenschaft bis dato unbekannt gewesen waren, jenseits des dicken Quarzglases der Sichtluke ihr Leben führten. Er war verliebt in die unbekannten Tiefen, voller Staunen über eine riesige Welt, von deren Geheimnissen die Menschheit noch kaum etwas erhascht hatte. Nach mehr als drei Stunden kamen die Forscher wieder an die Oberfläche und krochen verspannt und halb erfroren hinaus ins Sonnenlicht.

Anfang der zwanziger Jahre, bevor er seine Tauchkugel konzipiert hatte, war Beebe ein Verfechter des Helmtauchens gewesen wegen seiner relativen Einfachheit. Es gibt verschiedene Unterwasserfotos von ihm, auf denen er nichts als eine Badehose, Tennisschuhe und auf den Schultern einen selbst entwickelten Kupferhelm trägt. Auf meinem Lieblingsfoto ruht sein eines Knie auf dem Meeresboden, während er auf dem anderen eine Schreibtafel aus Zink balanciert, auf der er mit einem Bleistift etwas notiert oder skizziert. Am Übergang des Helms zur Brust sprudeln ein paar Blasen hervor. Ein einziger Luftschlauch zieht sich nach oben, wo, auf dem Bild nicht sichtbar, in einem Ruderboot jemand von Hand Luft hinabpumpt. Beebes zugleich entspannte und aufmerksame Haltung ist diejenige eines Naturforschers beim Beobachten. Da es ihm nicht um das Brechen von Rekorden zu tun war, vermochte er auch beim Tauchen aufmerksam Feldforschungsarbeit zu leisten. Von heute aus gesehen könnte man meinen, seine Tauchkugel – dieser „Augapfel an einer Schnur“ – sei zu primitiv gewesen, um von wissenschaftlichem Wert zu sein. Das Gegenteil ist der Fall. Beebe war in erster Linie ein Naturforscher, und die Notizen, Skizzen und Fotografien, die er bei seinen Tauchgängen machte, erschlossen damals ozeanografisches Neuland und sind bis heute von Wert.

Am Anfang seiner Darstellung dieser Tauchgänge in „Half Mile Down“ (1935) spekuliert Beebe, „binnen weniger Jahre“ werde das Helmtauchen etwas Alltägliches werden, ja sogar ein Allerweltssport. Er starb 1962, und es freut mich, dass er das Zeitalter des Flaschentauchens noch erlebte, denn ihm lag viel daran, dass jedermann die Wunder des Meeres erleben können sollte bis zur Tiefe von 20 Metern, die er mit seinem einfachen Helm erreichte: „In diesem Königreich sind die meisten Pflanzen Lebewesen, die Fische Freunde, die Farben unirdisch in ihrem Wechselspiel und ihrer Zartheit; da sind Wunder etwas Alltägliches, das man immer wieder erleben kann. Mag sein, dass es hier eine Vielzahl schrecklicher Gefahren gibt, doch bei Hunderten von Tauchgängen sind wir ihnen nie begegnet.“

Ich hatte keinerlei solche Ausrüstungsgegenstände, als ich in Südostasien zu meiner Ernährung Speerfischerei betrieb. Das bedeutete, dass ich ausgesprochen häufig mit angehaltenem Atem tauchte, und bald stellte ich fest, dass Beebes Einstellung gegenüber der Unterwasserwelt im Wesentlichen der meinen entsprach. Ich war hingerissen, wenn auch nicht so sehr, dass ich vergessen hätte, dass ich essen musste. Dieser Notwendigkeit wegen wurde ich von selbst zu einer Art Naturforscher. Ich lernte durch Beobachtung und gelegentlich durch schmerzliche Erfahrung. Ich entwickelte mit der Zeit die wachsame, auf Einzelheiten achtende Beziehung zur Natur, die alle Jäger haben, inklusive jener sonderbaren Affinität zu und dem Respekt vor ihrer Beute.

Gelegentlich kam mir ein Speer abhanden. Und da dieser wie Flosse und Maske selbst gemacht war und sein Verlust den Verlust mehrerer Stunden Arbeit bedeutete, tat ich mein Möglichstes, um ihn zurückzubekommen. Das hatte bisweilen zur Folge, dass ich tiefer tauchte, als ich gewollt hatte, und gelegentlich sogar tiefer, als es gefahrlos war. Mit angehaltenem Atem und meiner Flosse kam ich nie tiefer als 24 Meter. Doch auch so wurde mir bewusst, dass der alltägliche Vorgang der Nahrungsbeschaffung, den ich bis dahin als eine Kunst betrachtet hatte, ungewollt einen neuen Aspekt angenommen hatte: den einer Herausforderung. In jenen Tagen der Speerfischerei stieß ich oft an die Grenze meiner Leistungsfähigkeit; und eine Zeitlang wetteiferte ich mit mir selbst darum, wie tief ich käme. Ich nutzte jede Gelegenheit, meinen Rekord zu verbessern, indem ich hinabtauchte, um den am weitesten entfernten glitzernden Gegenstand heraufzuholen oder den tiefsten Felsvorsprung zu berühren. Dort unten, wo es dunkler und kälter wurde, wurden mein Wille und meine von Angstvorstellungen bevölkerte Fantasie auf die Probe gestellt. Das Risiko steigerte zweifelsohne meine Eindrücke von einer Welt, die keine Grenzen hatte – außer meinen eigenen. Das war vor ungefähr 20 Jahren, als ich noch keinen Schimmer davon hatte, wie viele Menschen von diesen Dingen geradezu besessen waren. Allerdings gab es damals noch nicht dieses Interesse für Extremsportarten, wie sie heute im großen Stil betrieben werden.


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mare No. 48

No. 48Februar / März 2005

Ein Essay von James Hamilton-Paterson

Der britische Romancier und Sachbuchautor James Hamilton-Paterson, Jahrgang 1941, lebt in Italien und auf den Philippinen. Seine Begeisterung für alles, was mit dem Meer zu tun hat, bezeugen die Bücher Seestücke und Drei Meilen tief, beide bei Klett-Cotta erschienen.

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Bodmer.

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Vita Der britische Romancier und Sachbuchautor James Hamilton-Paterson, Jahrgang 1941, lebt in Italien und auf den Philippinen. Seine Begeisterung für alles, was mit dem Meer zu tun hat, bezeugen die Bücher Seestücke und Drei Meilen tief, beide bei Klett-Cotta erschienen.

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Bodmer.
Person Ein Essay von James Hamilton-Paterson
Vita Der britische Romancier und Sachbuchautor James Hamilton-Paterson, Jahrgang 1941, lebt in Italien und auf den Philippinen. Seine Begeisterung für alles, was mit dem Meer zu tun hat, bezeugen die Bücher Seestücke und Drei Meilen tief, beide bei Klett-Cotta erschienen.

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Bodmer.
Person Ein Essay von James Hamilton-Paterson