Das vage Mundgefühl

Hongkong ist das wichtigste Handelszentrum für Haifischflossen. Denn noch immer kommt hier an der Haifischflossensuppe nicht vorbei, wer auf chinesische Esstradition Wert legt

Ich habe zweimal geheiratet und zwar dieselbe Frau: einmal in Hamburg und einmal in Jakarta. Pünktlich zum Fest in Jakarta zog ich mir eine Erkältung zu, und so schlafwandelte ich fiebrig durch die Feierlichkeiten in dem großen Restaurant. Außer dem chinesischen Clan meiner Frau – zehn Onkel, elf Tanten, ungezählte Cousins und Cousinen sowie Freunde und Bekannte – waren auch meine Mutter und ihr Mann zugegen. Es gab ein Menü mit vielen Gängen, und natürlich wurde auch Haifischflossensuppe gereicht. Meine Frau interessierte sich nicht für die Suppe, die ihr Vater hatte auffahren lassen. Nur eine Formalität für sie. „Ich mag das nicht“, sagte dagegen meine Mutter, die sich sichtlich ekelte. „Das schmeckt mir zu sehr nach Tier.“ Ich weiß nicht mehr, wie mir die Suppe schmeckte. Zu lange liegt die Feier zurück.

Ein paar Jahre später nahm ich beim Abschiedsessen des International Writers Workshop an der Hong Kong Baptist University teil. Schriftsteller aus aller Welt waren angereist. Beim abschließenden Festessen wurde Haifischflossensuppe gereicht. Die Reaktionen der Gäste reichten von Entsetzen bis Amüsiertheit.

Ich war vor allem neugierig. Vielleicht würde es mir dieses Mal gelingen, hinter das Geheimnis der teuren Suppe zu kommen. Es gelang mir aber nicht. Die Flossen – in der Suppe waren sie zu Fasern zerfallen, die ein wenig wie Glasnudeln aussahen – schmeckten nach nichts. Oder ist ihr Genuss zu subtil für einen Ausländer, der China nie ganz verstehen wird?

„Im Ausland begnügt man sich mit den angenehmen Eigenschaften der Nahrungsmittel. Beim Essig begnügt man sich mit der Säure, beim Lachs mit seinem salzigen Geschmack“, schrieb der Dichter Sikong Tu in seinem „Brief an Herrn Li“ vor gut 1000 Jahren. „Die echten Chinesen dagegen“, so Sikong weiter, „essen erst, wenn ihr Hunger schon gestillt ist. Sie wissen, dass dem vollen Geschmack eine andere Art der Fülle fehlt, die jenseits des Sauren und Salzigen liegt.“

Sikongs Brief handelt eigentlich nicht vom Essen – es dient ihm nur als Beispiel –, sondern von der Dichtkunst. In der Poesie schätzte Sikong einen Stil der Fadheit. Er schätzte ihn für sein Potenzial. Das Fade sei auf nichts festgelegt. Es biete darum den Raum, in dem sich die Ausstrahlung aller unverwirklichten Möglichkeiten entfalten könne. Der ausgeprägte Geschmack aber sei eine Blockade, die dem Genuss enge Grenzen setze. Besteht der Clou der Haifischflossen etwa gerade darin, dass sie nach nichts schmecken?

Die Hongkonger reden nicht gerne mit Ausländern über die Vorzüge des sonderbaren Gerichts. Die meisten gehen in die Defensive, wenn das Wort Haifischflossensuppe fällt. Sie erwarten, dass Ausländer die Sache mit den Flossen empörend finden, und sie lassen sich nicht gerne über die Moral oder Unmoral ihrer Essgewohnheiten belehren. Die meisten verbinden ganz unschuldige Erinnerungen mit der Suppe: Sie haben sie als Kind bei Omas Geburtstag gegessen oder bei der Hochzeit der großen Schwester. Dafür möchte sich niemand zu rechtfertigen haben. Auch Köche und Restaurantbetreiber reagieren abweisend: Sie fürchten, dass man sie an den Pranger stellen will.

Bekanntlich heißt es, jeder sei mit jedem anderen Menschen um nicht mehr als sieben Ecken bekannt. Ich brauchte immerhin drei Verbindungen, um in Hongkong einen wahren Liebhaber der Haifischflossensuppe zu finden. Mehrmals versicherte ich ihm per E-Mail und per Telefon, dass es mir nicht darum gehe, den Genuss der Suppe zu geißeln, sondern gerade darum, ihn zu verstehen. Was ist das Attraktive an den Haifischflossen?

Schließlich war Stephen Chan bereit, sich zu einem Gespräch auf unverfänglichem Territorium zu treffen: in einer McDonald’s-Filiale in Kowloon. Dutzende Kinder lärmten durch den Speisesaal, manche in Begleitung ihrer Eltern, andere in Begleitung ihrer Mobiltelefone. Offenbar war die Schule gerade zu Ende. Chan beugte sich über seinen Kaffeebecher und schenkte mir einen intensiven Blick.


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mare No. 105

No. 105August / September 2014

Von Justus Krüger und Maika Elan

Autor Justus Krüger, Jahrgang 1974, ist Sinologe und lebt seit fast zehn Jahren in Hongkong.

Fotografin Maika Elan, geboren 1986, aus Hanoi, stieß beim Thema Haifischflossen auf großen Widerstand. Also tarnte sie sich beim Fotografieren der Geschäfte als Touristin, die durch Hongkong schlendert.

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Vita Autor Justus Krüger, Jahrgang 1974, ist Sinologe und lebt seit fast zehn Jahren in Hongkong.

Fotografin Maika Elan, geboren 1986, aus Hanoi, stieß beim Thema Haifischflossen auf großen Widerstand. Also tarnte sie sich beim Fotografieren der Geschäfte als Touristin, die durch Hongkong schlendert.
Person Von Justus Krüger und Maika Elan
Vita Autor Justus Krüger, Jahrgang 1974, ist Sinologe und lebt seit fast zehn Jahren in Hongkong.

Fotografin Maika Elan, geboren 1986, aus Hanoi, stieß beim Thema Haifischflossen auf großen Widerstand. Also tarnte sie sich beim Fotografieren der Geschäfte als Touristin, die durch Hongkong schlendert.
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