Das unbekannte Rauschen

Agnès Varda schuf am Mittelmeer einen Meilenstein der Filmkunst

Es ist die Präsenz des Meeres, die diesem Film seine Textur und Atmosphäre gibt. Und seinen Rhythmus. Das Meer ist einfach da. Es ist Vorder- und Hintergrund, Grundlage des Lebens und Arbeitens in dem südfranzösischen Fischerviertel La Pointe Courte, einem Ortsteil von Sète. Man sieht Männer, die mit ihren Kähnen hinausfahren, die Netze flicken, Muscheln in Kisten verpacken. Man erlebt Familien, für die der Quai eine Art Fortsetzung des Hauses ist. Am Ufer wird gelacht, gestritten, geflirtet und getratscht. Hier werden Boote gezimmert und Bettlaken in den warmen Mistral gehängt.

Dazwischen geschieht dies: Ein Mann und eine Frau gehen durch den Ort, vorbei an niedrigen, weiß getünchten Häusern. Der Mann kommt aus der Welt dieses Quartiers. Für sie, die in Paris Geborene, ist sie fremd. Die beiden sprechen über ihre Gefühle und über ihre Ehe. Am Ende wird die Frau bei ihrem Mann bleiben, den sie eigentlich verlassen wollte.

Das ist auch schon die Handlung des Filmes „La Pointe Courte“, 1955 gedreht von Agnès Varda. Er markiert den Beginn eines neuen, offenen filmischen Erzählens. Dieses Kino brach aus den Studios und Kulissen aus, ließ den Alltag und das Leben in seine Bilder und Geschichten einziehen. Statt fest gefügten Handlungen und konventionellen Dramaturgien zu folgen, brachte es Lebensgefühle auf die Leinwand, setzte sich dem Licht und den Geräuschen der Wirklichkeit aus.

„La Pointe Courte“ war der erste französische Film, der sich diese Freiheit nahm. Er gilt als das erste Werk der Nouvelle Vague, einer Regiebewegung, die sich vom erstarrten französischen Nachkriegskino verabschiedete, die vermeintlichen Regeln des Filmemachens außer Acht ließ und an deren Stelle eine produktive Vermischung setzte: von dokumentarischen und fiktionalen Bildern, von professionellen Darstellern und Laien, von geschriebenen und improvisierten Dialogen.

Agnès Varda war die Pionierin dieser „neuen Welle“, die durch Kollegen wie Jean-Luc Godard, François Truffaut, Éric Rohmer und Jacques Rivette zu einer der wichtigsten Strömungen der Filmgeschichte wurde.

Der freie Geist von „La Pointe Courte“ ist untrennbar mit der Persönlichkeit von Agnès Varda verbunden, einer kleinen Frau, die über sechs Jahrzehnte hinweg mit unfassbarer Energie und großer Neugier Filme drehte und durch ihr Regiedebüt das Attribut „Mutter der Nouvelle Vague“ bekommen sollte.

„Diese Bezeichnung schien mir immer übertrieben“, sagte Varda, als ich sie vor etwa zehn Jahren in ihrem Haus in der Pariser Rue Daguerre besuchte. Sie trug die rot-weiße Ponyfrisur, die zu ihrem Markenzeichen wurde. Mit ihren über 80 Jahren verströmte sie eine fast jugendliche Offenheit – Leben und Filmemachen als emphatischer Dialog mit der Welt, als leidenschaftliche Reaktion auf die Unberechenbarkeiten des Lebens.

Ein Zufall, dass Varda in der Pariser Straße wohnte, die nach Louis Daguerre, dem französischen Pionier der Fotografie, benannt ist? Dort empfing sie die Besucherin mit Kaffee und süßen chouquettes vom Bäcker nebenan (in ihrem 1975 gedrehten Dokumentarfilm „Daguerréotypes“ über ihre Nachbarschaft widmete sie ihm ein liebevolles Kurzporträt). Das Gespräch fand in Vardas Küche statt, während sich auf dem Fliesenboden vier winzige Katzenbabys lautstark balgten.

Sie habe einfach das Bedürfnis empfunden, den Alltag des Fischerdorfs mit den privaten Gesprächen des Paares parallel zu setzen, sagte Varda. „Es war vielleicht eine Pioniertat, aber eine instinktive, eine Vorwegnahme von dem, was kam. Denn fünf Jahre später ging es mit der Nouvelle Vague dann erst richtig los.“

1954 arbeitete sie als Fotografin am Pariser Théâtre National Populaire. Filme hatte sie zu diesem Zeitpunkt nach eigener Aussage nicht viele gesehen, vielleicht zwei Dutzend, vielleicht weniger. Es sei die Stille gewesen, die sie an der Fotografie gestört habe, wird sie später sagen. Und so beginnt Agnès Varda mit privaten Mitteln, unter anderem einer kleinen Erbschaft, eine filmische Erzählung am Meer vorzubereiten. Szene für Szene, mit exakt aufgeschriebenen Dialogen. Als Darsteller gewinnt sie zwei Theaterschauspieler: Silvia Monfort und Philippe Noiret. In langen Einstellungen lässt Varda die beiden durch das Dorf spazieren. Dabei tragen sie in ruhigem, sachlichem Tonfall Dialoge vor, die die Unterschiedlichkeit der in Paris lebenden Eheleute offenbaren.

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 140. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 140

mare No. 140Juni / Juli 2020

Von Katja Nicodemus

Katja Nicodemus ist im Feuilleton der Wochenzeitung Die Zeit für Kino zuständig. Sie lebt in Berlin. Zuletzt besuchte sie Agnès Varda im Jahr 2009 in deren Pariser Haus.

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Vita Katja Nicodemus ist im Feuilleton der Wochenzeitung Die Zeit für Kino zuständig. Sie lebt in Berlin. Zuletzt besuchte sie Agnès Varda im Jahr 2009 in deren Pariser Haus.
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Vita Katja Nicodemus ist im Feuilleton der Wochenzeitung Die Zeit für Kino zuständig. Sie lebt in Berlin. Zuletzt besuchte sie Agnès Varda im Jahr 2009 in deren Pariser Haus.
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