Das tapfere Schneiderlein

Mitten in Inguschetien, Hunderte Kilometer entfernt vom Meer, entwickelt Achmed Schadijew neuartige Verfahren, Fischhäute kunstvoll für die Modebranche aufzubereiten. Seine Pläne fliegen hoch

Wie viele Liter Wasser sind nötig, um einen Schuh aus Fischleder zu fertigen?“, fragt Achmed Schadijew. Er gibt gleich selbst die Antwort. „Elfmal weniger als für einen Schuh aus Rindsleder!“ Für eine Bibel aus Pergament, fährt Achmed fort, habe man einst 150 Kälber gebraucht. Er könnte sie aus 50 machen – aus 50 Kraken, versteht sich. Ein normaler Krake nämlich liefere um die drei Blätter in A5 und zwei in A4. Und, bitte schön, warum wohl sehe seine Handyhülle nach drei Jahren Benutzung immer noch wie neu aus? „Weil sie aus Lachshaut ist“, sagt Achmed, die sei dreimal robuster als eine aus Rindsleder. Das liege an den kalten Tiefen, in denen die Fische leben.

„Hier“, ruft Achmed und reicht ein dünnes, fast durchsichtiges Stückchen Kalmarhaut, eine Art Wischtuch, „zieh einmal daran!“ Es reißt nicht. „Fester!“, fordert Achmed. „Noch fester!“ Keine Chance. „Siehst du?“, sagt Achmed.

Nach kaum einer Viertelstunde mit Achmed weiß man mehr über Fischhäute und ihre Geheimnisse, als man je erfahren wollte. Und das gerade hier, in Inguschetien. Inguschetien ist eine kleine russische autonome Republik im nördlichen Kaukasus. Das nächste Meer befindet sich Hunderte Kilometer entfernt. Es ist ein Land mit etwa so vielen Einwohnern wie der Berliner Stadtteil Pankow. Die neue Hauptstadt Magas dürfte die kleinste der Welt sein: Kaum 3000 Menschen leben darin, die schmalen Straßen verlaufen sich in der Wildnis. Der größte Reichtum des Landes sind seine Berge und Täler und die umwerfende Gastfreundschaft ihrer Bewohner. Der Tourismus allerdings wächst nur mählich, die Nähe zum übel beleumundeten Nachbarland Tschetschenien spielt eine Rolle. So bleiben Inguschetien vor allem die mineralienreichen Wasserquellen und die Alimente aus Moskau, um über die Runden zu kommen.

Eine Zeit lang sah es so aus, als sollten auch Achmeds Produkte das Land wesentlich befördern. Mitten in Nasran, der früheren Hauptstadt des Landes, drehen sich die Trommeln riesiger Waschmaschinen, die einst in Autowaschanlagen standen. Jetzt wirbeln darin die Häute von Lachs und Stör, von Karpfen oder Kraken. Woanders sind sie nicht mehr als Abfall der Fischindustrie. Müll will Achmed Schadijew die Häute, angeliefert aus dem fernen Portugal, aus Peru, vom Kaspischen Meer, allerdings nicht nennen. „Ich nenne sie Produkte der Fischverarbeitung.“

Achmed Schadijew, 55 Jahre alt, ist so etwas wie eine Legende in Inguschetien. Er hat den Geruch von Ozean und Seewind ins Land der wilden Gebirgsreiter getragen. Nur seinetwegen gibt es die elf einschlägigen Läden in Inguschetien, ein kleines kaukasi- sches Wunder. „Unsere Boutiquen sind ein Geheimtipp unter Japanern“, erzählt Chawa Gantemirowa, die Generaldirektorin der Firma Shadi, stolz. Auch die Bauarbeiter aus Katar, die just eine große Moschee in Magas bauen, kehren regelmäßig ein. Eine Boutique steht im Hotel „Magas“, die Rezeptionistin kramt in einer Schublade, dann findet sie den Schlüssel. Sie öffnet eine Vitrine in der Größe eines Besenschranks. „Na ja“, murmelt die Empfangsdame, „Boutique …“ Der Inhalt des gläsernen Schmuckkastens ist dennoch bemerkenswert: Halsketten aus der Haut von Stören liegen darin, Vasen mit Kalmarhaut überzogen, Buchumschläge aus Karpfenhaut, Geldbörsen aus Forellenleder. Sogar Bildchen mit Inguschetiens traditionellen Wehrtürmen gibt es, die Farbpigmente sind pulverisierte Fischhaut.

Noch mehr Preziosen liegen im Verkaufsraum der Firma: Handyhüllen, Messergriffe, Blumenorigami, all das natürlich aus Fischhaut gefertigt. An Gestellen hängen Handtaschen aus Lammleder, überzogen mit Karpfenhaut. In Regalen stehen Schuhe aus Kalbsleder mit irisierenden Oberflächen aus Störschuppen. Bald, sagt die Generaldirektorin, werden hier auch Hosen aus Karpfenhaut ausgestellt sein. Derzeit gebe es noch kleine Verarbeitungsprobleme, aber die ökologische Unbedenklichkeit sei schon bestätigt. „Meine Katze hat an den Hosenbeinen gekaut“, sagt die Generaldirektorin mit einem Lächeln, „es geht ihr gut.“

Anfangs beschäftigte sich Achmed mit dem Gerben von Schaffellen, es war eher ein Hobby und passte auch besser zum Kaukasus. Lange arbeitete er als Eisenbahnlogistiker in Astrachan an der Wolga. Dort, am großen Fluss, ärgerte er sich über die Ladungen von Fischhäuten, die in seinen Waggons weggefahren und dann irgendwo entsorgt wurden.

Vor rund 20 Jahren begann Achmed, die ersten Fischhäute zu bearbeiten – zu Hause, in Waschschüsseln. „Außerdem wollte ich etwas tun für mein Land“, sagt Achmed. Er gründete die Firma Shadi. Anfangs musste das Wasser aus den Bergen in Handwagen herangekarrt werden, bei Sturm fielen die Maschinen aus. Doch er hielt durch. Ein Dutzend Mitarbeiter werkeln heute in seiner Fabrik, die einst Griffe für Bohrmaschinen und Kalaschnikows herstellte. Es sind ehemals arbeitslose Näherinnen einer Fabrik für Bettwäsche und Handwerker der angrenzenden chemischen Reinigung, die längst geschlossen ist.

 

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mare No. 142

mare No. 142Oktober / November 2020

Von Maik Brandenburg und Dmitrij Leltschuk

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, lebt als freier Autor auf Rügen. Bei Delius Klasing erschien sein Buch über seine Heimatinsel: „Rügen – neu entdecken“. Seit der Reise nach Inguschetien trägt seine Frau einen Armreif aus Lachshaut, mit dem sie auf Rügen einiges Aufsehen erregt.
Dmitrij Leltschuk, geboren 1975 in Minsk, Weißrussland, ist freier Reportagefotograf in Hamburg. Da seine Reisepasshülle löchrig wurde, brauchte er dringend eine neue. Idealerweise aus einem robusten, aber auch schönen Material. In Inguschetien wurde er schließlich fündig.

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Vita Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, lebt als freier Autor auf Rügen. Bei Delius Klasing erschien sein Buch über seine Heimatinsel: „Rügen – neu entdecken“. Seit der Reise nach Inguschetien trägt seine Frau einen Armreif aus Lachshaut, mit dem sie auf Rügen einiges Aufsehen erregt.
Dmitrij Leltschuk, geboren 1975 in Minsk, Weißrussland, ist freier Reportagefotograf in Hamburg. Da seine Reisepasshülle löchrig wurde, brauchte er dringend eine neue. Idealerweise aus einem robusten, aber auch schönen Material. In Inguschetien wurde er schließlich fündig.
Person Von Maik Brandenburg und Dmitrij Leltschuk
Vita Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, lebt als freier Autor auf Rügen. Bei Delius Klasing erschien sein Buch über seine Heimatinsel: „Rügen – neu entdecken“. Seit der Reise nach Inguschetien trägt seine Frau einen Armreif aus Lachshaut, mit dem sie auf Rügen einiges Aufsehen erregt.
Dmitrij Leltschuk, geboren 1975 in Minsk, Weißrussland, ist freier Reportagefotograf in Hamburg. Da seine Reisepasshülle löchrig wurde, brauchte er dringend eine neue. Idealerweise aus einem robusten, aber auch schönen Material. In Inguschetien wurde er schließlich fündig.
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