Das Ohr am Boden des Kanus

Die Polynesier nutzten den Wellenschlag auf hoher See zur Navigation

Im alten Ozeanien herrschte der Wellenschlag über das Leben – ebenso wie über den Tod. Auf den mikronesischen Marshall-Inseln benutzt man noch heute ein und dasselbe Wort für Paddel und Grabstein. Warum? Weil die Chiefs gemäß hergebrachter Regeln mit ihrem Kanupaddel auf der Grube beigesetzt wurden. Wahrzeichen und Nutzbringer auch für das Jenseits. Einzig das ehemals geheime Wissen um die Seereise konnte den Kontakt zwischen den Bewohnern der winzigen, weithin verstreuten Koralleninseln garantieren, Jahrtausende bevor Kompass, Sextant und Funkgerät die Atolle erreichten. Genauer gesagt, war es die traditionelle Navigation, die sich selbst die unscheinbarsten Zeichen in der Wasserwüste – Vögel, Wolkenformen, Sterne – zunutze machte, um den richtigen Weg zu anderen Ufern zu finden.

Doch als höchste Meisterschaft gilt unter Mikronesiens berühmten Sternnavigatoren der Karolinen „meaify“ – das Fühlen der Wellen. Jene Fertigkeit, mit dem Körper im schaukelnden Auslegerboot die Gestalt der Dünung zu erspüren und so den Kurs zu halten. Gleichsam als Blinder versteht es der Navigator, die Wellenmuster anhand der Kanubewegung zu lesen und für sein Ziel zu deuten. Selbst in absoluter Dunkelheit. Das unendlich wandelbare und zugleich verwirrende Spiel der Wogen hat das archaische Know-how Ozeaniens zu einer einmaligen Kunst beflügelt – zur Wellennavigation.

Die jungen Adepten dieser Kunst, oftmals erst acht, neun oder zehn Jahre, mussten früher unter Anleitung ihres Lehrers Stunden über Stunden mit geschlossenen Augen in der Brandung zubringen, um Gespür für die Wellenformationen zu entwickeln. Raymond de Brum, ein Navigator von den Marshall-Inseln, beschreibt noch zu Beginn der sechziger Jahre, wie die erfahrenen Kanusegler ihre herangewachsenen Schüler mitnahmen: „Diese älteren Kapitäne fuhren die jungen Männer zuerst aufs offene Meer hinaus. Sie selber blieben im Boot, während sich die Jungen gemäß ihrer Anweisung rücklings ins Wasser legten, dort trieben und sich entspannten, so daß sie lernen konnten, wie die heranrollenden Wellen sich anfühlten.“ Aber auch das akustische Gespür für das Wellenklatschen an der Bootswandung war dereinst bestechend. Ein Missionar auf den Marshall-Inseln berichtet davon, wie „der Navigator sich im Kanu hinlegt, sein rechtes Ohr für mehrere Minuten an den Boden pressend, den anderen an Bord verkündet: Das Land liegt vor uns!“

Dieses erstaunliche Orientierungsvermögen greift auf uralte Erfahrungen mit den Kräuselungen, Schaumkämmen und Kreuzseen des Pazifiks zurück. Es mag Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende benötigt haben, bis unermüdliche Kanusegler aus dem Geschwappe von Böenmustern, Strömungswellen und einem Tausende von Kilometern entfernt geborenen Seegang die besonderen Wellenmuster ihrer angesteuerten Insel herauszulesen vermochten. Flüssige Signale, ausgestrahlt vom ersehnten Land. Wie eine charakteristische Aura umhüllt das zurückgeworfene Meer jede noch so einsame Insel. Und macht sie damit weit über ihre Grenzen hinaus wahrnehmbar.

Physikalisch betrachtet werden Wasserwellen von einer Landmasse ebenso reflektiert oder von ihrer ursprünglichen Richtung abgelenkt wie Lichtwellen, die auf ein Hindernis stoßen. Auch die traditionellen Navigatoren Ozeaniens kannten und nutzen noch immer dieses Wirkungsprinzip, obwohl unvertraut mit westlicher Wissenschaft. Durch Reflexion und Beugung entstehen in Inselnähe typische Wellenmuster und Interferenzen, die dem Segler Richtung und Entfernung seines unsichtbaren Zielpunktes angeben. „Wellen sind unterschiedlich, wenn du dich dem Land näherst“, gab der melanesische Kanukapitän Tupuai dem Neuseeländer David Lewis für sein Standardwerk „We, the Navigators“ (1972) zu Protokoll. „Die Veränderung vollzieht sich 15 bis 20 Meilen vor der Küste, und sie wird durch die Welle verursacht, die von der Küste reflektiert wird. Diese reflektierte Welle heißt ‚te ngaru fenua‘, die Landwelle. Weit entfernt vom Land ist sie kaum fühlbar und benötigt einen Experten, um sie aufzuspüren.“ Andere Sternnavigatoren bestätigen, dass der Wahrnehmungsradius der Landwellen das Doppelte, ja das Dreifache des optischen Horizonts beträgt, also rund 50 Kilometer. Riesige Inseln wie Neuseeland reflektieren die Dünung sogar 300 Kilometer zurück aufs Meer.


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mare No. 3

No. 3August / September 1997

Von Thomas Worm

Thomas Worm, Jahrgang 1957, lebt als freier Autor in Berlin und schreibt Reisereportagen.

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