Das Meer war leer

Wie zwischen Afrika und Europa eine Wüste entstand

Die Wissenschaftler auf dem Forschungsschiff „Glomar Challenger“ machten am 24. August 1970 einen unerwarteten Fund. Sie hatten 180 Kilometer vor der Küste Kataloniens den Tiefseeboden angebohrt, um Proben einer seltsamen Gesteinsschicht zu entnehmen, die Geologen bei seismischen Reflexionsmessungen entdeckt hatten: 100 Meter unter dem Meeresgrund lag eine Schicht, die Schallimpulse anders zurückwarf als die darüber und darunter liegenden Sedimente. „M-Reflektor“ nannten die Geologen das unbekannte Gestein.

Jetzt lag auf dem Labortisch der „Glomar Challenger“ die erste Probe dieses M-Reflektors: eine auf den ersten Blick öde Mischung aus Sand und Kies. Doch die US-amerikanischen Expeditionsleiter Kenneth Hsü und Bill Ryan entdeckten, dass sie einen spektakulären Fund gemacht hatten: Kies und Sand sind das Werk von Erosion an Land, aber diese Gesteinsprobe bestand aus ozeanischem Material: Basalt, Sedimenten mit Planktoneinschlüssen und Gips. Wie sollten die in 2000 Meter Tiefe zu Kieseln erodiert sein? Und Gips! Gips ist ein Evaporit – ein Rückstand, der bei der Verdunstung von Meerwasser entsteht. Die Forscher formulierten ihre Ahnung vorsichtig als Frage: War es möglich, dass der Boden des Mittelmeeres zeitweilig eine Wüste war?

Vier Tage später, ein Bohrloch südöstlich der Balearen. Wieder fraß sich der Bohrer im M-Reflektor fest. Dieses Mal förderte der Probenzylinder eine marmorartige Säule aus Anhydrit und Stromatolith zu Tage – Stoffe, die sich auf keinen Fall in der Tiefsee bilden können. Anhydrit entsteht in Salzmarschen bei Temperaturen über 30 Grad Celsius, und Stromatolith besteht aus versteinerten Algenmatten, die nur in seichten Gewässern vorkommen.

Doch jetzt lagen mehr als drei Kilometer Wasser über diesem Gestein. War das Mittelmeer einst viel flacher, hatte sich der Seegrund gesenkt? Diese Erklärung wurde verworfen, nachdem Paläontologen das Alter des M-Reflektors bestimmt hatten: Die Sedimente direkt unter der „Marmorsäule“ enthielten eine Planktonart, die vor sechs Millionen Jahren im Mittelmeer existierte. Und zu dieser Zeit entsprachen die Wassertiefen schon ungefähr dem heutigen Stand. Also kam nur eine zweite Erklärung in Frage: Das Mittelmeer – drei Millionen Quadratkilometer weit und bis zu 5000 Meter tief – war ausgetrocknet.

Auslöser dieser Naturkatastrophe war die Kontinentalverschiebung: Vor 20 Millionen Jahren war das Mittelmeer eine breite Verbindung zwischen Atlantik und Indischem Ozean. Doch dann kollidierten Afrika und Eurasien und schnitten das Mittelmeer vom Indischen Ozean ab. Und die Öffnung zum Atlantik hin wurde so schmal, dass der Wasseraustausch nicht mehr funktionierte. Das Mittelmeer wurde immer salziger, seine Tierwelt auf einige wenige Organismen reduziert. „Salinitätskrise“ nannten Biologen das große Artensterben vor sechs Millionen Jahren.

Nachdem dann weitere Bewegungen der Erdkruste auch die Frischwasserzufuhr vom Atlantik versperrt hatten, begann das Mittelmeer zu verdunsten. Erst blieben noch eine Reihe großer Salzseen übrig, doch auch die verdampften schließlich. So entstand tief unter dem heutigen Meeresspiegel eine Wüste.

Sie hatte Bestand, bis der Atlantik vor fünf Millionen Jahren die Landbrücke von Gibraltar abgetragen hatte. In einem gigantischen Wasserfall stürzte nun Wasser aus dem Ozean in das leere Becken. 40000 Kubikkilometer pro Jahr, schätzte Hsü, tosten den Katarakt von Gibraltar hinunter. 100 Jahre später war das Meeresbecken wieder randvoll.

Doch so wird es nicht bleiben. Der Geologe Hsü sagt dem Meer abermals eine dürre Zukunft voraus: Durch Ablagerungen in der Straße von Gibraltar ist der Zufluss von Atlantikwasser schon jetzt stark eingeschränkt, und es gibt erste Verdunstungsverluste. In zwei Millionen Jahren könnte das Mittelmeer wieder leer sein.

Und wenn schon: Hsü kann sich vorstellen, dass am Damm von Gibraltar riesige Wasserkraftwerke entstehen und auf dem Meeresgrund Fördertürme, die den Reichtum der Ölfelder unter den Salzpfannen ausbeuten. Für Badeorte an Riviera oder Costa Blanca wird es allerdings richtig bitter: In den abgelegenen Wüstendörfern werden wohl nur wenige Unerschrockene Ruhe und Erholung suchen.

mare No. 25

No. 25April / Mai 2001

Von Olaf Kanter

Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.

Kenneth Hsü schildert die Expedition der „Glomar Challenger“ in seinem leider vergriffenen Buch Das Mittelmeer war eine Wüste, München 1984

Der Panorama-Kartenmaler Heinrich Berann zeichnete die Reliefkarte des Mittelmeeres 1968 nach den Tiefseelot-Messungen der US-Geologen Bruce Heezen und Marie Tharp. Südlich der Rhône-Mündung, vor der libyschen Küste und nördlich des Nil-Deltas sind tiefe Canyons zu erkennen – von Flüssen in den Meeresgrund gekerbt, als sie vom Kontinentalsockel in die ausgetrocknete Tiefsee rauschten, wo auch sie verdampften

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Vita Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.

Kenneth Hsü schildert die Expedition der „Glomar Challenger“ in seinem leider vergriffenen Buch Das Mittelmeer war eine Wüste, München 1984

Der Panorama-Kartenmaler Heinrich Berann zeichnete die Reliefkarte des Mittelmeeres 1968 nach den Tiefseelot-Messungen der US-Geologen Bruce Heezen und Marie Tharp. Südlich der Rhône-Mündung, vor der libyschen Küste und nördlich des Nil-Deltas sind tiefe Canyons zu erkennen – von Flüssen in den Meeresgrund gekerbt, als sie vom Kontinentalsockel in die ausgetrocknete Tiefsee rauschten, wo auch sie verdampften
Person Von Olaf Kanter
Vita Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.

Kenneth Hsü schildert die Expedition der „Glomar Challenger“ in seinem leider vergriffenen Buch Das Mittelmeer war eine Wüste, München 1984

Der Panorama-Kartenmaler Heinrich Berann zeichnete die Reliefkarte des Mittelmeeres 1968 nach den Tiefseelot-Messungen der US-Geologen Bruce Heezen und Marie Tharp. Südlich der Rhône-Mündung, vor der libyschen Küste und nördlich des Nil-Deltas sind tiefe Canyons zu erkennen – von Flüssen in den Meeresgrund gekerbt, als sie vom Kontinentalsockel in die ausgetrocknete Tiefsee rauschten, wo auch sie verdampften
Person Von Olaf Kanter