Das Meer oder nichts

Gegen allerlei Widerstände sucht eine junge Frau die Herausforderung der türkischen Männerwelt – als Schiffsoffizierin

Sibel ist vierzehn Jahre und träumt vom Meer. Sie ist eine rebellische Jugendliche voller Unabhängigkeitsdrang und will nicht so sein wie alle. Sie rasiert sich die Haare rund um den Kopf, dass nur oben ein paar Büschel stehen bleiben, und vertraut auf sich. Eines Tages lässt ihr Onkel sie auf dem U-Boot mitfahren, auf dem er arbeitet. Da reift ihr Entschluss in kurzer Zeit: das Meer oder nichts. Aber auf einem U-Boot kann ein Mädchen nicht arbeiten. Da werden die Betten doppelt belegt. Am Tag schlafen die einen, in der Nacht die anderen. Kein Platz zu viel. Und natürlich kein Platz für Frauen.

Das Gymnasium schließt Sibel mit der höchsten Punktzahl ab, bei der Aufnahmeprüfung an die Universität schafft sie ein gutes Resultat und schreibt sich für einen Studienplatz in Physik ein. Sie wird nach Ankara zugeteilt. Aber die Hauptstadt ist ein verschlossener Ort ohne Meer, ohne die Weite der Freiheit, mit einem begrenzten Horizont. Schnell begreift sie, dass sie es hier nicht aushalten kann; nach einem Monat packt sie den Koffer. Sie will etwas Besseres. Ihre Eltern haben keine materiellen Probleme und bezahlen ihr ein Jahr lang Unterricht an einer Privatschule, wo sie sich ein zweites Mal auf die Universitätsprüfung vorbereitet. Es wird ein leichtes Jahr; sie hat die Gewissheit, dass sie es schaffen kann. Bei der Studienplatzwahl berät sie ihr Vater, ein Absolvent der Technischen Universität Istanbul, der ITÜ.

Auch die Mutter hat Wünsche, die gehen vor allem in Richtung der Ziele, die sie selbst nicht erreichen konnte. Pharmazeutik, schlägt sie vor, ein guter Frauenberuf; Sibel schreibt es auf die Liste. Dazu setzt sie zwei Abteilungen aus dem Bereich Schiffswesen. Sie ist jetzt 18 Jahre alt und träumt vom Ausland wie alle jungen Türkinnen und Türken. Ihre einzige Erfahrung damit liegt Jahre zurück. Mit ihren Eltern fuhr sie von Kırklareli in Thrakien an die bulgarische Grenze. Sie starrte hinüber. Was? Die gleichen Menschen wie hier, die gleichen Hühner? Keine gigantischen Wolkenkratzer, keine Roboter? Das will sie besser wissen, das wird sie sich genauer ansehen. Gegen den Widerstand des Vaters bleiben die Abteilungen für Schiffswesen auf der Studienplatzliste stehen. Sibel will kein Leben wie ihre Mutter mit Heirat und Familie, und was soll ein Beruf als Geschäftsfrau im Kostüm, wie ihre Eltern ihn wünschen? Sie will aufs Meer, sich ihre Träume erfüllen.

Und ausgerechnet der Fakultät für Schiffswesen der ITÜ in Istanbul weist man sie zu, der Abteilung für Maschinentechnik. Als sie mit einem Freund zum Sekretariat geht, spricht die Sachbearbeiterin nur mit dem Jungen, bis sich Sibel einmischt. Die Angestellte muss sich zuerst an den Gedanken gewöhnen, dass in dem Jahr erstmals Mädchen aufgenommen werden: Von 150 neu Eingeschriebenen sind zehn weiblich. Die Abteilung für Schiffswesen, an der Sibel studieren wird, geht zurück auf den 1884 gegründeten handelsbezogenen zivilen Zweig der Deniz Harp Okulu, der militärischen Seefahrtsschule; erst 1993 ist sie der ITÜ angegliedert worden. Sie ist immer noch militärisch geprägt. Vier Jahre wird Sibel nach einem strikten vertikalen Prinzip studieren: Was von oben kommt, ist ernst zu nehmen; gegen unten kann man fordern.

Das Studium fängt mit einer strengen Eignungsprüfung an: 50 Liegestützen, 50 Klimmzüge, medizinische Untersuchung. Davon sind vier der Mädchen abgeschreckt und ziehen sich zurück. Sibel ist es recht; Schwierigkeiten sind da, überwunden zu werden. Noch jetzt spürt sie die Aufregung, wenn sie zurückdenkt.

Das Vorbereitungsjahr absolviert sie im Campus von Maçka in der Stadt; es geht ums Englischlernen, da der Hauptstudiengang zu einem Drittel auf Englisch geführt wird. Mit zwei Kolleginnen mietet Sibel eine Wohnung. Auch dieses Jahr wird ein leichtes, mit Vergnügungen in der Freizeit, Kino ein Mal pro Woche, Theater. Als aber im folgenden Jahr in Tuzla, weit außerhalb der Stadt am Marmarameer, die eigentliche Ausbildung anfängt, ändert sich der Ton. Die Erstklässler sind die Untergebenen, die allen anderen Studierenden gehorchen müssen. Sie haben sie vorschriftsgemäß mit „Sie“ anzusprechen und „Abi“, der Anrede für einen älteren Bruder. Befehle von Studentenseite müssen ohne Widerrede ausgeführt werden, Verstöße werden mit Kollektivstrafen geahndet.

Schlimmer ist, dass die Aufnahme der Mädchen, obwohl offizieller Beschluss der Rektorin und des Dekanats, zu einer Palastrevolution führt: Das Ziel der Jungen der oberen Klassen ist es, die jungen Frauen von der Schule zu ekeln. Sie werden wegen jeder Lappalie angeschrieen, für jeden Fehler verantwortlich gemacht und zu den absurdesten Aufgaben geschickt. Bei Regen werden sie zum Rasengießen abkommandiert, und in der Kantine verbietet man ihnen den Aufenthalt.


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mare No. 46

No. 46Oktober / November 2004

Von Hanna Rutishauser und Jürg Ramseier

Die Zürcherin Journalistin und Schriftstellerin Hanna Rutishauser, Jahrgang 1950, lebt seit acht Jahren auf der asiatischen Seite Istanbuls, „um das Interkulturelle von der anderen Seite aus zusehen“.

Jürg Ramseier, Jahrgang 1954, ist freier Fotograf im Schweizer Emmental und unterrichtet Fotografie.

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Vita Die Zürcherin Journalistin und Schriftstellerin Hanna Rutishauser, Jahrgang 1950, lebt seit acht Jahren auf der asiatischen Seite Istanbuls, „um das Interkulturelle von der anderen Seite aus zusehen“.

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