Das Logbuch der Aristidine

Seit Jahren unternimmt eine Segelyacht regelmäßig Törns im Mittelmeer. An Bord sind Jugendliche mit Downsyndrom. Hier lernen sie Selbstbestimmtheit und Verantwortung. Die Erfolge des Projekts sind beeindruckend

Es ist mehr als nur eine lustige Ferienreise, wenn Daniele Castignani mit jeweils acht jungen Menschen auf zwei Booten durch das Mittelmeer segelt. Die Mitglieder seiner Crew lernen, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen, sie lernen Sozialverhalten unter verschärften Bedingungen und vielleicht, ganz nebenbei, auch besser schwimmen. Ähnliches passiert wohl auf jedem Segeltörn, doch Castignanis Mannschaft tut sich bisweilen schwer damit. Seine Mitsegler sind Menschen mit Downsyndrom. Castignani ist Mitarbeiter der „Associazione Italiana Persone Down“ (AIPD), einer Organisation, die 1979 in Rom von Eltern mit Downsyndrom-Kindern gegründet wurde, um in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die Belange der Betroffenen zu schaffen. Die AIPD informiert und berät Schulen, bietet Selbsthilfegruppen für Eltern an und Kurse, in denen Erwachsene mit Downsyndrom lernen, eigenständig zu leben.

Vor zehn Jahren hat der passionierte Segler Castignani zusammen mit der Segelschule Blu Tribù das Projekt „Ragazzi Down al timone“, „Down-Jugend am Ruder“, ins Leben gerufen. Mit den jungen Erwachsenen zwischen 18 und 35 Jahren segeln Pädagogen, Segellehrer und Freiwillige. Und Castignani ist Jahr für Jahr begeistert davon, was die Reise bei ihren Teilnehmern auslöst: „Das Gefühl von Abenteuer, die Konfrontation mit Naturgewalt hat große erzieherische Wirkung. Die Teilnehmer lernen vom ersten Tag an, selbst zu navigieren. Sie lernen zu teilen und anderen ihren Raum zu lassen, zu kochen und ihre Sachen in Ordnung zu halten. Sie lernen auf sehr unmittelbare Weise in einer für alle extremen Situation, mit anderen zusammenzuarbeiten. Das Segelboot ist ein natürlicher Generator für Konflikte, man muss sich arrangieren und zwischenmenschliche Probleme lösen, sonst kommt das Boot nicht ans Ziel.“

 

 

Die Besatzung
Giordana Cavalieri, 20
Gennaro Falco, 36
Chiara Manganozzi, 23
Nicola Spreafico, 30
Benedetta Skofic, 23
Kapitän Mario Folinea

10. Juli 2010
Palmi, Kalabrien, im Hafen
19.26 Uhr, Nicola
Wir sind mit zwei Zügen und zwei Bussen gefahren. Neun Stunden von Rom aus. Die Segelboote sind hier. Wir werden jetzt zum Strand gehen. Ich möchte mir etwas wünschen. Ich werde mir Angelruten wünschen für Kapitän Mario. Ich werde mein Telefon abstellen.

21.15 Uhr, Gennaro
Warum verschwindet die Sonne hinter dem Meer? Wie nennt man das noch mal? Einen Sonnenuntergang. Licht ist Licht. Es ist Energie. Das ist das erste Mal, dass ich das sehe, einen Sonnenuntergang.

22.20 Uhr, Giordana
Ich bin von einer Qualle gestochen worden. Ich habe Salmiakgeist daraufgetan, und der Stich ist verschwunden. Dasselbe ist mir schon einmal passiert. Ich habe Salmiakgeist daraufgetan, und der Stich ist verschwunden.

22.40 Uhr, Nicola
Mario, der Kapitän, hat uns die Landkarte gezeigt. Damit wir sehen können, wohin wir segeln. Der Gott des Windes ist Äolus. Ich möchte ihn hören. Es ist windig dort. Deswegen ist es gefährlich. Die Inseln sind die Äolischen, und es sind sieben Schwestern – sieben Inseln.

22.45 Uhr, Gennaro
Ah, ich fürchte mich vor dem Vulkan.

22.46 UHR, Chiara, Benedetta (beide lachen sehr ausgelassen)
Stromboli, Strombili, Stomboli, Strombili … Es heißt „stronzo“ [Scheißkerl, die Red.] im römischen Dialekt.

11. Juli 2010
Palmi, Kalabrien, im Hafen
9.15 Uhr, Giordana
Wir haben Besprechung draußen an Deck. Drinnen ist es heiß. Mario hat mir das rote Armband gegeben. Mann, ich hasse Rot. Jede Farbe sagt uns, was unsere Aufgabe an jedem Tag ist. Meine Aufgabe heute ist es zu kochen.


Ohrenkuss
Eine ähnliche Segelreise fand 2008 in Deutschland statt, einmalig durchgeführt und dokumentiert von der Zeitschrift „Ohrenkuss“. Der mare-Redaktion hat das Ergebnis damals so gut gefallen, dass sie die Idee mit dem Einverständnis der Kollegen übernommen hat. 

„Ohrenkuss“ wird von Menschen mit Downsyndrom gestaltet. Das Heft erscheint alle sechs Monate, die Autoren thematisieren alles, was sie beschäftigt und bewegt. Bei „Ohrenkuss“ wagten 21 Mitglieder der Redaktion das Abenteuer mit Wind und Wetter auf der Brigg „Roald Amundsen“ in der Kieler Bucht.

Wenn die „Ohrenkuss“-Redaktion nicht gerade auf See ist, arbeitet sie in „downtown“, der „Werkstatt für Kultur und Wissenschaft“ in Bonn, an ihren Projekten und der Zeitung. Sich für diese als Autor bewerben kann jeder, der das Downsyndrom hat. Die Beiträge werden von den mehr als 40 Autoren selbst geschrieben, einem Sekretär oder einem Tonband diktiert oder am Computer verfasst.

Verändert oder verbessert werden die Texte nicht. Trotzdem gibt es Assistenten, die bei der Autoren- und Redaktionsarbeit unterstützend und begleitend wirken – jedoch nur, wenn es von den Autoren gewünscht ist oder sinnvoll erscheint.

Zwölf Bonner Kollegen treffen sich regelmäßig einmal in der Woche zur Redaktionssitzung. Auch sie haben das Downsyndrom und arbeiten deshalb langsamer und mit größeren Schwierigkeiten als andere Menschen.

Aber die Mitarbeiter des „Ohrenkusses“ haben keine Probleme damit, sie sind zufrieden mit sich und ihrer Arbeit. Diese wird mit Begeisterung aufgenommen – 30 000 Abonnementleser zählt die Zeitschrift (www.ohrenkuss.de).
Marieke Leger


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 87. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 87

No. 87August / September 2011

Von Deanna Richardson und Giuseppe Moccia. Übersetzung Martina Wimmer

Protokolle: Deanna Richardson

Übersetzungen: Martina Wimmer

Fotos: Giuseppe Moccia, geboren 1978 in Neapel, wuchs in Rom auf. Er studierte International Economics in Milano und später Fotografie am International Centre of Photography in New York.

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Vita Protokolle: Deanna Richardson

Übersetzungen: Martina Wimmer

Fotos: Giuseppe Moccia, geboren 1978 in Neapel, wuchs in Rom auf. Er studierte International Economics in Milano und später Fotografie am International Centre of Photography in New York.
Person Von Deanna Richardson und Giuseppe Moccia. Übersetzung Martina Wimmer
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Fotos: Giuseppe Moccia, geboren 1978 in Neapel, wuchs in Rom auf. Er studierte International Economics in Milano und später Fotografie am International Centre of Photography in New York.
Person Von Deanna Richardson und Giuseppe Moccia. Übersetzung Martina Wimmer