Das Kloster der Seefahrer

Das Jerónimos-Kloster bei Lissabon ist das architektonische Prunkstück aus Portugals „Goldenem Zeitalter“

Ana Mantua verlässt ihren Arbeitsplatz nie auf direktem Weg. Nach Feierabend, wenn sich im Jerónimos-Kloster wieder die Stille ausbreitet, schlendert die junge Kunsthistorikerin durch den Kreuzgang, zwischen Drachen und Löwen, Heiligen, Fabelwesen und verschlungenen Pflanzen hindurch. Eine Reise, auf der sie jeden Tag ein neues Detail entdeckt, ein kleines Seeungeheuer oder eine exotische Blüte, die sich irgendwo in den fantastisch geformten Steinen versteckt hatte.

Manchmal lehnt die Kunsthistorikerin noch eine Weile am Rand des Löwenbrunnens, lässt den Blick schweifen, durch die filigran verzierten Bogen, die ihre Schatten als Palmen in die Gänge legen, und vielleicht hallt von fern das Getöse: „Man hörte das dumpfe Stimmengewirr eines Menschenzuges. Es war der König, der vom Spaziergang mit seinem asiatischen Gefolge zurückkehrte“, schilderte der Geschichtsschreiber Oliveira Martins im 19. Jahrhundert: „Vorneweg erschien das Rhinozeros aus Afrika, dahinter wie Berge die fünf Elefanten aus dem Stall des Königs, geschmückt mit Brokatdecken, dahinter auf einem Pferd aus Persien der Jäger mit einem Leopard, am Ende der reitende König mit dem Hofstaat, umringt und verfolgt. War das ein König aus Europa? Aus Indien? Oder aus Babylon?“

Es war der König aus Portugal: Dom Manuel I. In seinem Auftrag suchte und fand Vasco da Gama den Seeweg nach Indien, kreuzten die Portugiesen die Weltmeere, segelten nach Indonesien und China und entdeckten Brasilien. Das kleine Land am Rande des Kontinents bekam sein „Goldenes Zeitalter“ der Entdeckungen. Das war zwar nur ein Rausch weniger Jahrzehnte, aber Dom Manuel konnte ihn voll auskosten.

Als „der Glückliche“ lebt er weiter in den Geschichtsbüchern – und im Jerónimos-Kloster, das er an der Mündung des Flusses Tejo vor den Toren Lissabons bauen ließ. Der König bezahlte das Kloster mit der „vintena da pimenta“, der Pfeffersteuer, dem zwanzigsten Teil allen Goldes aus Guinea und der Gewinne aus dem Handel mit Gewürzen und Edelsteinen aus Indien. Als Pantheon sollte es ihm und seinen Nachkommen dienen – aber nicht nur. Alle Schiffe, die Lissabon erreichten, sollten als Erstes dieses Kloster sehen, diese Pracht am Flussstrand, fast direkt am Meer, mit dem Blick in die Welt.

„Dieses Kloster“, sagt Ana Mantua und setzt jedes Wort so bedächtig, als ob sie eine Last balancieren müsse, „ist ein mystischer Ort, das Symbol einer Epoche, ein nationales Symbol.“ Mal mehr, mal weniger pathetisch pflegen die Portugiesen bis heute die Erinnerung an ihr „Goldenes Zeitalter“. Für die Kunsthistorikerin hat ihr Arbeitsplatz ein mächtiges historisches Gewicht. „Und mit dieser ganzen Symbolik ist er ziemlich ermüdend.“

„Silencio“ bittet ein Schild am Eingang zur Kirche, doch es ist hoffnungslos: Deutsche, englische, französische, spanische Stimmen prallen aufeinander, Fremdenführer predigen kunsthistorische Daten, Videokameras schwenken durch die Höhe. In dicken Trauben schieben sich die Besucher durch die Gänge des Klosters, das die Vereinten Nationen zum Weltkulturerbe erklärt haben.

3000 Besucher kommen an manchen Tagen. Haben sie am Haupteingang, dem Westportal, die in Kalkstein gemeißelte Darstellung der Geburt Jesu gesehen? Nicht im Stall, sondern in einem Schiff, das Jesuskind gebettet in einen Fischerkorb? Haben sie die stille Dramatik gespürt, mit der man aus dem Schatten unter dem oberen Chor in das gleißende Licht der Nachmittagssonne tritt, das golden durch die dreischiffige Hallenkirche in die königliche Grabkapelle flutet, bis hin zu den indischen Elefanten, die die Särge der Könige tragen? Die schlanken achteckigen Pfeiler betrachtet, die sich im Deckengewölbe zu Palmen aufspannen und einen Himmel aus Sternen und Quadraten bilden? Und hatten sie Zeit, einige der kleinen, dicken Monster aufzuspüren, die wahrlich fantastischen Geschöpfe, die um die Pfeiler herumkrabbeln?

Wäre der Lissaboner Stadtteil Belém noch das Fischerdorf Restelo, hielten die Touristenbusse nicht auf einem asphaltierten Parkplatz, sondern am Strand. Im 15. Jahrhundert war die Mündung des Tejo noch weit geöffnet und der Fluss ein kräftiger Arm des Meeres, den die Gezeiten an- und abschwellen ließen. Damals wäre der Tejo bei Flut fast zur Kirchentür hereingeschwappt, durch das weiß leuchtende Südportal. Heute ist das Ufer vom Kloster durch mehrspurige Straßen und einen akkurat linierten Parkplatz getrennt.

Zwischen den Skulpturen von Heiligen und Propheten blickt vom Südportal der Infante Henrique nach Übersee. Der fromme Pionier der Entdeckungen hatte die ersten Seereisen nach Nordafrika geplant und verwirklicht. Stolze 32 Meter hoch ist das üppig verzierte Portal, gekrönt von Unserer Lieben Frau von Bethlehem, der Schutzheiligen aller Seefahrer. Ihr hatte Infante Henrique eine Kapelle geweiht, an der gleichen Stelle, wo später das Kloster gebaut wurde, am Strand von Restelo. Ein Fischerdorf mit heiliger Mission: Belém wurde es fortan genannt, nach der portugiesischen Kurzform für Bethlehem. Von diesem Strand aus sollte eines Tages nicht nur der Seeweg nach Indien gefunden, sondern die Welt christianisiert werden.


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mare No. 21

No. 21August / September 2000

Von Kirsten Wulf und Nicolas Sapieha

Kirsten Wulf, Jahrgang 1963, lebt als freie Journalistin in Hamburg. In mare No. 12 schrieb sie über Pablo Nerudas Haus am Meer.

Nicolas Sapieha, 1937 in Warschau geboren, war als Reportage- und Architekturfotograf weltweit tätig und erhielt den Pulitzer-Preis für Fotografie. Er starb 1995. Abdruck seiner Fotos mit freundlicher Genehmigung von Edições Inapa, Lissabon

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Vita Kirsten Wulf, Jahrgang 1963, lebt als freie Journalistin in Hamburg. In mare No. 12 schrieb sie über Pablo Nerudas Haus am Meer.

Nicolas Sapieha, 1937 in Warschau geboren, war als Reportage- und Architekturfotograf weltweit tätig und erhielt den Pulitzer-Preis für Fotografie. Er starb 1995. Abdruck seiner Fotos mit freundlicher Genehmigung von Edições Inapa, Lissabon
Person Von Kirsten Wulf und Nicolas Sapieha
Vita Kirsten Wulf, Jahrgang 1963, lebt als freie Journalistin in Hamburg. In mare No. 12 schrieb sie über Pablo Nerudas Haus am Meer.

Nicolas Sapieha, 1937 in Warschau geboren, war als Reportage- und Architekturfotograf weltweit tätig und erhielt den Pulitzer-Preis für Fotografie. Er starb 1995. Abdruck seiner Fotos mit freundlicher Genehmigung von Edições Inapa, Lissabon
Person Von Kirsten Wulf und Nicolas Sapieha