Das irische Panoptikum des Tomi Ungerer

Auf den letzten Metern Europas, dort, wo sich das äußerste Kap in den Atlantik reckt, lebt und arbeitet der Künstler Tomi Ungerer. Seine entlegene Farm ist Hort seiner Sammelleidenschaft und beherbergt auch manche Schauerlichkeit

In dem ehemaligen Pferdestall von Tomi Ungerers Farm, im äußersten Südwesten Irlands, auf dem zerklüfteten Land der Halbinsel Mizen Head, hängt der Kadaver einer Katze. Gleich hinter der Stalltür stehen ein Crosstrainer und zwei weitere Fitnessgeräte, in einer Ecke baumelt ein schwerer Boxsack. Aufgerollte Wasserschläuche an geweißten Wänden, ein schwarzes, mit lang gezogenen Ärmeln  an den Deckenbalken befestigtes Gummikleid. Die Katze hängt an einem schwarzen Pfahl. Der mit einem Spiegel eingefasste Rahmen einer Badewanne. Ein verbeulter, von Ungerer mit Hammer und Zangen malträtierter Kochtopf. Eine große, mit einer Patina aus Rost überzogene Stahlfeder, die wie die meisten von Ungerers Objekten und Assemblagen auf einen schlichten Holzblock montiert ist.

Der Pferdestall ist Ungerers Arsenal, der seiner Ehefrau Yvonne abgerungene Stauraum neuer, sperriger oder aus dem Weg geschaffter Arbeiten; ein in der Nähe von Haus und Studio gelegenes Purgatorium, in dem sich Ungerers Kunstwerke an den von seiner Frau und den Söhnen benutzten Alltagsgegenständen messen. Als „Jeanne d’Arc“ versetzt Ungerer die von einem der Söhne geschossene Katze, deren verbrannter, wie mit der Glut eines Lötkolbens bearbeiteter Kadaver sich in einem grauenerregenden Schmerzensgestus um den auf einen dunklen Holzblock montierten Pfahl zu winden scheint, in den Stand der Gnade.

„Unsere Nachbarn waren die O’Learys, die hatten sieben Kinder, aber fast alle von ihnen haben Irland verlassen und leben heute zerstreut auf der ganzen Erde“, sagt Tomi Ungerer. „Als der Letzte ging, hat er seine Katze hiergelassen, und sie ist wild geworden. Aber wir mögen unsere Vögel, besonders die Bachstelzen, und irgendwann im letzten Herbst hat Lukas die Katze erwischt. Ich wusste gleich, was ich mit ihr mache.“ Ungerer steht auf dem Weg, der zum Haus hinaufführt, und stützt sich auf seinen Stock. Links das unter strahlendem Himmel phosphoreszierende Gras und vereinzelte Schafe, die nackten Klippen, das Meer; rechts der kleine, von einer Trockenmauer begrenzte Wald, in dem die tote Katze den Winter über an einem der vom Salz verbrannten Bäume hing.

„Woanders wäre sie zu Aasfleisch geworden, aber durch die Kälte und das Salz, das mit dem Golfstrom aus Südamerika zu uns kommt, ist sie einfach nur ausgetrocknet“, sagt Ungerer und geht vorsichtig weiter Richtung Haus. „Ich musste sie nicht mal abfackeln, die Haare sind von allein abgefallen. In den letzten Jahren ist das Klima hier extremer geworden“, sagt er. „Die Winter sind kälter, die salzigen Stürme kommen öfter und viel stärker als früher. Nadelbäume schaffen es an der Küste sowieso nicht, sie verbrennen im Salz. Aber zum ersten Mal sind dieses Jahr auch die Palmen eingegangen.“

Er bleibt stehen und stützt sich auf den Stock. Er trägt einen braunen Anorak, ausgebeulte Cordhosen und schwarze Gummiclogs, einen lodengrünen Hut, dessen breite Krempe er tief in die Stirn zieht, weil das Sonnenlicht in den Augen schmerzt. „Wir leben hier mit den Stürmen, aber im letzten Winter hatten wir drei Wochen lang alle vier oder fünf Tage einen neuen, und einer war 160 Stundenkilometer schnell. Siehst du die Wiese da unten?“ Ungerers hagerer Körper schwankt für einen Augenblick, als er den Stock hebt und auf eine zur Bucht abfallende Wiese zeigt, auf der einzelne Steine und Felsblöcke liegen. Dahinter der Ozean, das tiefe Blau eines makellosen, nur von den schroffen Klippen südlich der Farm und einem sanften Bergrücken gerahmten Spiegels, der sich bis zum Horizont erstreckt und den haltlosen Blick des Betrachters in einen Taumel versetzt. Ungerers Farm liegt zwei Autostunden südwestlich von Cork, auf den letzten Metern Europas, des äußersten, sich in den Atlantik erstreckenden Kaps, das im Frühjahr und Sommer von einer sanftmütigen Schönheit sein kann und im Herbst und Winter den unerbittlichen Kräften von Wind und Wasser trotzt.

„Seit diesem starken Sturm, nach dem das Haus wochenlang ohne Strom und Telefon war und Yvonne das Wasser bei eisiger Kälte wie in alter Zeit aus dem Brunnen holen musste, ist die ganze Wiese voller Felsbrocken – ein Riesenbordell, das man erst einmal wieder aufräumen und reinigen muss“, sagt Tomi Ungerer und stößt den Stock ins Gras. „Das Leben hier ist kein Touristenspaß, kein Bullshit“, ergänzt er und geht dem schwarzen Neufundländer entgegen, der hinter dem Gatter am Ende des Zufahrtswegs wartet. „Aber wir haben’s noch gut. Wir sind hoch über dem Ozean und haben mehr Glück als Holland oder Florida, wo man in 50 Jahren eine gewaltige Tragödie erleben wird.“


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mare No. 112

No. 112Oktober / November 2015

Von Thomas David

Thomas David, geboren 1967, studierte Anglistik und Kunstgeschichte und schreibt seit Mitte der 1990er-Jahre für Zeitungen und Magazine. Er arbeitet als Redakteur und ist Autor zahlreicher Radiofeatures. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind Philip Roth (2013) und Nahaufnahme Luk Perceval (2015).

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Vita Thomas David, geboren 1967, studierte Anglistik und Kunstgeschichte und schreibt seit Mitte der 1990er-Jahre für Zeitungen und Magazine. Er arbeitet als Redakteur und ist Autor zahlreicher Radiofeatures. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind Philip Roth (2013) und Nahaufnahme Luk Perceval (2015).
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Vita Thomas David, geboren 1967, studierte Anglistik und Kunstgeschichte und schreibt seit Mitte der 1990er-Jahre für Zeitungen und Magazine. Er arbeitet als Redakteur und ist Autor zahlreicher Radiofeatures. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind Philip Roth (2013) und Nahaufnahme Luk Perceval (2015).
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