Das Haus der alten Männer

Eine Reportage aus dem einzigen Altersheim für Seeleute in Italien

Seine Hand zittert nur wenig. Er zieht ein zerknittertes Blatt Papier und einen Füllfederhalter aus der Innentasche seines ihm viel zu groß gewordenen Jacketts. Vorsichtig streicht er das Papier glatt und zieht angestrengt drei Linien auf die leere Seite. Dann legt er langsam und mit äußerster Konzentration zwei Wörter über die Linien: Munizio Pasquale.

Immer trägt er einen Stift bei sich, auch heute wird er seinen Namen noch ein paarmal in großen, steilen Lettern aufzeichnen. Pasquale Munizio heißt er, das weiß er noch. Und auch, dass er in New York hätte bleiben sollen, wie alle anderen, vergisst er nicht. Er sagt es einem immer wieder.

Ein schrilles Klingeln – unsanfte Erinnerung an die Wecksirene auf den Schiffen – hallt morgens um acht durch die kahlen Räume. Der kleine schöne Mann faltet eilig den Zettel zusammen, zuckt entschuldigend mit den Schultern und hastet zum Frühstück. Milchcafé, Weißbrot, ein wenig Marmelade und Früchte stehen auf den Tischen, der morgendliche Hunger ist nicht groß. Zu zweit oder allein sitzen 23 Männer an kleinen, gelben Metalltischchen in dem geräumigen, grün gestrichenen Essraum der „Casa di riposo per la gente di mare“, dem Haus des Ruhens für die Leute des Meeres. Gesprochen wird kaum, was soll man sich auch erzählen?

Zwei, die sich ein Tischchen teilen, sind Agostino Aste und Giulio Merega. Merega, der 70jährige, der immer etwas später kommt, weil er sich auf ein rollendes Metallgestell gestützt durch die Räume bewegen muss. Den Kopf nach unten, kann er stehend nur die Welt der Füße und des Terrazzo wahrnehmen. Aste hingegen, 17 Jahre älter, ist stets pünktlich, er isst genüsslich, die Sonnengläser der Brille hochgeklappt, und bricht nach dem Frühstück zu seinem täglichen Spaziergang durch Camogli auf. Die Luft ist feucht, die Hitze um diese Uhrzeit erträglich. Noch spielt die Katze in der Sonne ihr grausames Spiel mit einem zum Sterben auserkorenen Käfer. Später wird sie faul im Schatten liegen und auf die Reste des Mittagessens warten.

Den Park teilt sich die Casa di Riposo mit der Villa des ehemaligen Direttore. Keiner weiß genau, weshalb der Mann da noch wohnen darf. Gemunkelt wird viel, vielleicht hat er gute Freunde in Rom? Die Villa thront bedrohlich über dem Anwesen, erinnert an das Haus der mordenden ,Mutter’ in Hitchcocks „Psycho“. Hinter einer Fensterscheibe sieht man denn auch das starre Gesicht einer Greisin. Stundenlang kann sie da stehen und regungslos herschauen. Wer ist sie? Auch hier nur Spekulationen. Vielleicht eine Tante des Direttores. Der Führungsstil des Alten war despotisch, hart und hierarchisch. Und noch heute ist sie spürbar, die Macht des Stärkeren. Aste zieht das grüne Metalltor, welches die Straße vom Park trennt, hinter sich zu und geht der Hauptstraße entlang ins Dorf.

Camogli also: ein Ort mit vielleicht 4000 Einwohnern, 20 Kilometer östlich von Genua gelegen. Ein Städtchen mit einer erstaunlichen Architektur. Glatte Fassaden zum Meer hinaus, einhundertjährige, stolze Häuser mit sieben, acht, manchmal auch neun Stockwerken. Dichtgedrängte Hochhäuser mit enormen Ausmaßen; man erwartet solche Gebäude vielleicht in Mailand, nicht jedoch in einem Fischerörtchen an einer ligurischen Bucht.

Nein, zum Hafen geht er nicht. „Ich habe in meinem Leben genügend Wasser gesehen. Wenn der Arzt mir Blut abzapfen will, dann rieselt nur Salz aus meinen Adern.“ Aste ist stur. Unter gar keinen Umständen will er an die Mole, auch nicht für ein Foto. „Es ist ein Mythos, dass Seeleute ohne Meer und Schiff nicht sein können. Der Fabrikarbeiter kann ohne Fließband auch ganz gut leben.“ Er dreht sich um, geht weiter, die Straße gabelt sich, er wählt – wie immer – den oberen Weg.

Im Haus ist es ruhig. Die Männer haben sich verteilt, einer liegt auf der Pritsche im Sanitätszimmer und lässt sich den Blutdruck messen, zwei sitzen im Flur, die Blicke hängen am Boden, ein anderer liest im Aufenthaltsraum die Zeitung, ein paar dösen vor sich hin, tief in die schwarzen, abgenutzten und überaus bequemen Ledersessel gedrückt, die an den weiß gekalkten Wänden entlang stehen. Die grünen Fensterläden sind geschlossen, das grelle Sommerlicht ist ausgesperrt.

Es gibt auch die, die sich sofort wieder in ihre „Kabinen“ eingeschlossen haben – „die Gewohnheit, Signora, die Gewohnheit“. Man sagt, es seien jene Männer, die auf Ölfrachtern geschuftet haben, denen die Eintönigkeit und Härte der Arbeit die Seele geraubt habe, die misstrauisch und einsilbig geworden seien. Wenn man auf dem Flur an ihren Zimmertüren vorbeigeht, hört man die schrillen Töne billiger italienischer Fernsehshows.

Die Kabine von Francesco Palombo ist ordentlich aufgeräumt, am Fenster hängen Kleider zum Auslüften. Ein hölzerner Kleiderschrank, ein karierter Stoffsessel, ein schmales Bett, ein kleiner Tisch mit großem Spiegel, darauf ein paar Fotos. Kleine Kinder, eine Frau, ein altes Paar, wahrscheinlich seine Eltern. In eine chinesische Stickerei eingearbeitet, schaut ein ernstes, junges Gesicht von der Wand herunter: Palombo 1927 in Shanghai. Palombo erzählt gerne aus seinem Leben. 90 Jahre alt ist er jetzt, mehr als 45 Jahre hat er auf Schiffen verbracht. Es sind aber nicht die Meeresabenteuer – und er hat viele erlebt –, die ihn beschäftigen. Er spricht vielmehr, langsam und sehr präzise, von seiner Familie. Vor allem von seiner Frau, die 1936 nach der Totgeburt eines Sohnes schier wahnsinnig wurde und monatelang nur noch „e il mio bimbo!“ schrie, solange, bis sie von einem Arzt in eine psychiatrische Anstalt in Siena eingeliefert wurde. Psychiatrie 1936 hieß: Elektroschock, Zwangsjacke, kahlrasierter Schädel, schwerste Medikamente. Irgendwann hat er des abends seine Frau heimlich wieder mitgenommen und sie zu seiner Schwester gebracht.

Ein weiterer Sohn wird geboren. Das Kind gedeiht und wächst, bis es mit drei Monaten plötzlich erkrankt: Hirnhautentzündung. Der Säugling wird ins Krankenhaus gebracht, der kleine Körper ist verkrümmt, die Füße berühren den Hinterkopf. Die Mutter begleitet das Kind, Palombo fährt morgens mit dem Schiff auf das Meer hinaus, transportiert Carrara-Marmor von einem kleinen Hafen nach Livorno. Der Stein wird dort auf amerikanische Frachtschiffe verladen, die Amerikaner lieben den italienischen Marmor. Die Arbeit ist hart, der Tagesablauf streng eingeteilt. Vom Hafen fährt er direkt ins Krankenhaus. Täglich, wochenlang. Die Frau ist erschöpft, sie wird für einen Tag nach Hause gebracht. Am nächsten Morgen ist das Kinderbett leer. Der Säugling liegt in der Leichenhalle, in seinen Schädel ist ein kleines, sauberes Quadrat eingedrückt. Was ist passiert? Palombo schüttelt den Kopf. Medizin 1938.

Die verzweifelte Frau wird noch drei gesunde Kinder zur Welt bringen. Mario, der älteste, ist heute Kapitän des größten Luxusliners Italiens, der „Costa Victoria“. Alle im Haus sprechen über Mario und darüber, was für ein Glück Palombo mit seinem Sohn doch hat. Der Vater verlässt das Mittelmeer nicht mehr und transportiert rund zwei Jahrzehnte lang Waren von Tunis und Tanger nach Italien. Nach dem Tod seiner Frau lebt er ein paar Jahre alleine.

Und nun ist er hier. Wie alle anderen, musste auch Palombo zwei Aufnahmebedingungen erfüllen: Zur See musste man gefahren und alleinstehend sollte man sein. Immer weniger Männer leben in dem 1931 erbauten Haus. Für 50 Seeleute wurde es konzipiert, über Jahrzehnte wohnten hier immer 50 Männer. Heute sind es gerade noch die Hälfte, mehr als 20 Zimmer stehen leer, ein kleines Sicherheitsschloss baumelt an den jeweiligen Türen.

Diese Institution ist einmalig. Jeder italienische Seemann kennt das Haus, aber es gibt immer weniger italienische Seemänner. Und Rom? Rom, oder vielmehr das INPS, das Instituto Nazionale Providenza Sociale, kümmert es kaum, ob hier ein Mythos zugrunde geht. Es wird nun überlegt, ob man das Haus schließen oder es für andere Männer, Landmenschen halt, oder gar für Frauen öffnen soll.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 5. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 5

No. 5Dezember / Januar 1997

Von Zora del Buono und Florio Pünter

Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist Architektin und Kulturredakteurin von mare. Sie wuchs in Italien und der Schweiz auf, lebt und arbeitet in Berlin.

Florio Puenter, Jahrgang 1964, lebt als freier Fotograf in New York und im schweizerischen Engadin.

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Vita Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist Architektin und Kulturredakteurin von mare. Sie wuchs in Italien und der Schweiz auf, lebt und arbeitet in Berlin.

Florio Puenter, Jahrgang 1964, lebt als freier Fotograf in New York und im schweizerischen Engadin.
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