Das goldene Tor nach drüben

Die berühmteste Brücke der Welt ist nicht allein eine Attraktion für unzählige Touristen, sondern auch für eine traurige Minderheit. Besonders viele Suiziden­ten kommen hierher, um ihrem Leben ein schnelles Ende zu setzen.

Es geht so schnell, so wahnwitzig schnell. Ein Mensch lehnt am Geländer, dem rostroten, sein Blick schweift erst nach links, dann ein wenig nach rechts. Andere Menschen ziehen an ihm vorbei, sie eilen oder schlendern, sie joggen oder telefonieren, sie fotografieren, lachen, zeigen mit den Händen auf Inseln und die schöne hügelige Stadt, auf die Kite-Surfer, die unter ihnen ihre haarsträubenden Kapriolen aufführen, auf die Robben, die sich auf den Betonfundamenten in der Sonne suhlen. Seevögel spielen mit dem Wind, lassen sich treiben, hinauf und hinab, überall ist Bewegung und Leben und Freude, nur dort, bei diesem einen Mann am Geländer, scheint die Welt stillzustehen. Das Bild ist wie festgefroren, obwohl doch genau dieser Kosmos sich jetzt dreht wie verrückt, die rasenden Gedanken, die in ihm herrschen müssen, innere Stimmen vielleicht, die zu ihm sprechen, womöglich ist da eine luzide Sehnsucht oder ein dunkles, dumpfes Schweigen, wer weiß das schon. Dann, ganz unvermittelt, stemmt er sich hoch, schwingt seinen schweren Körper über das Geländer, wartet einen Augenblick und zack ist er weg, blitzschnell, einfach so, in den Abgrund entfleucht.

Rund vier Sekunden dauert der Sturz von der Golden Gate Bridge, mit 120 Stundenkilometern rast man in die Tiefe. Nahezu alle Suizidenten sterben, der Großteil von ihnen durch den Aufprall aufs Wasser, andere schießen mit den Füßen voran messerscharf in die Bucht hinein, sodass sie in den Tiefen der Fluten ertrinken, einige wenige überleben schwer verletzt den Sturz, unterkühlen jedoch in dem acht Grad kalten Wasser, und niemand kann ihnen mehr helfen.

Dann wieder einer, ein jüngerer, dünner Mann. Er telefoniert, wirft das Handy weg, schwingt sich aufs Geländer und ist verschwunden. Verblüffte Gesichter rundherum, aufgeregte Gesten. Wann schon schaut man einem Menschen beim Sterben zu, wann beobachtet man seine allerletzten Minuten, sein Hadern, sein Zögern, seine verstörende Ruhe oder seine Nervosität und schließlich den Moment des Entschlusses, des unwiderruflichen Falles? Es ist ein Film, dem man diese Bilder, die einem den Atem rauben, zu verdanken hat, ein Dokumentarfilm namens „The Bridge“, dessen Thema die Suizide auf der Golden-Gate-Brücke sind, heimlich von verschiedenen Standorten aus der Ferne gedreht, das ganze Jahr 2004 lang. Es sind private Momente, man fühlt sich schlecht im eigenen Voyeurismus, als ob man diesem einen Menschen etwas geraubt hätte. Hunderttausende Augen haben auf sein Sterben geschaut, tun es immer noch, jeden Tag im Internet, dabei wollte er doch nur sein Leben beenden, ganz für sich sein, befreit aus dem Käfig der eigenen Existenz.

„Wer sollte schon von der Golden Gate Bridge springen wollen?“, antwortete 1937 der Ingenieur Joseph Strauss bei der Eröffnung seiner Brücke auf kritische Reporterfragen bezüglich der Geländerhöhe. Klein gewachsen sei er gewesen, der Herr Strauss, nur 1,50 Meter. Darum habe er das Geländer auf seine Körpermaße zugeschnitten, 1,20 Meter ist es hoch, er konnte gewissermaßen sein Kinn darauf abstützen. Gut möglich – auch Le Corbusier ist bei seinem Idealmenschenschema „Modulor“, das für Generationen von Architekturstudenten als Maß aller Dinge galt, von der eigenen Statur ausgegangen.

Das niedrige Geländer ist schön, es trägt zur Eleganz des Bauwerks bei. Und zur Einladung zum Freitod. Drei Monate nach der Eröffnung sprang schon der Erste, Harold Wobbler hieß er, seine letzten Worte waren angeblich: „This is where I get off.“ Und so ging es weiter, immer weiter. Als Joseph Strauss ein Jahr nach der Eröffnung der Brücke den Herztod starb, hatten hier bereits sechs Menschen ihrem Leben ein Ende gesetzt. Die Zahl der Suizide stieg im Lauf der Zeit stetig an, letztes Jahr sind 33 Tote verbürgt, alle elf Tage einer also. Fast alle springen mit Blick auf die Bucht, die Seite zum Pazifik ist für Fußgänger gesperrt.

1996 versuchte eine Forschungsgruppe den Zusammenhang zwischen Selbsttötungen und dem Dow-Jones-Index herzustellen: 100 Tage lang wurden sogenannte „suicide boxes“ unter der Brücke aufgehängt, 17 Sprünge wurden damit aufgezeichnet, statistisch gesehen hätten es nur neun sein dürfen. Bis heute weiß man von knapp 1600 Suizidenten, womöglich sind es also doppelt so viele, ungezählte Unbekannte, die irgendwo in den USA vermisst werden und hier anonym starben, mit der Strömung in den Pazifik hinausgeschwemmt, von Tieren zerfressen, im Wasser aufgelöst, verschwunden in aller Stille. Doch nicht alle wollen unerkannt bleiben, viele springen am helllichten Tag, binden sich wasserdicht verpackte Abschiedsbriefe ans Bein, informieren vorab Freunde und Verwandte, sprachen schon Jahre zuvor immer wieder von ihrem Wunsch, hier, unbedingt hier sterben zu wollen.


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mare No. 99

No. 99August / September 2013

Von Zora del Buono

mare-Redakteurin Zora del Buono hat sich mit dem Freitod im Wasser schon umfangreich beschäftigt; er zieht sich als zentrales Motiv durch ihren Debütroman Canitz’ Verlangen, der 2008 im mareverlag erschien. Gerade arbeitet sie an ihrem dritten Roman.

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Vita mare-Redakteurin Zora del Buono hat sich mit dem Freitod im Wasser schon umfangreich beschäftigt; er zieht sich als zentrales Motiv durch ihren Debütroman Canitz’ Verlangen, der 2008 im mareverlag erschien. Gerade arbeitet sie an ihrem dritten Roman.
Person Von Zora del Buono
Vita mare-Redakteurin Zora del Buono hat sich mit dem Freitod im Wasser schon umfangreich beschäftigt; er zieht sich als zentrales Motiv durch ihren Debütroman Canitz’ Verlangen, der 2008 im mareverlag erschien. Gerade arbeitet sie an ihrem dritten Roman.
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