Das Glück der Fülle

Mit den Abenteuerhelden aus Jules Vernes Meeresromanen träumte sich Europas Bürgertum aus Enge und Erstarrung

Das Meer ist alles für mich! Es bedeckt sieben Zehntel der Erdoberfläche. Sein Wind ist rein und gesund. So unermesslich diese Einöde auch ist, fühlt sich der Mensch dennoch nie einsam, denn er spürt, wie das Leben um ihn wogt. Ein übernatürliches wunderbares Dasein rührt sich im Meer; es ist nur Bewegung und Liebe, lebendige Unendlichkeit.“ Kein Leser von „Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer“ (1869/70) wird diese Liebeserklärung an das Meer je vergessen, ebensowenig wie die Figur, die sie ausspricht: Kapitän Nemo.

Nemo, lateinisch für „Niemand“ – das ist ein später Nachfahre des Seefahrers Odysseus, der sich dem Riesen Polyphem listig als Oudeis, als Niemand, vorstellt und deshalb von den anderen Zyklopen unbehelligt bleibt, nachdem er ihren Genossen geblendet hat. Odysseus kann aus der Höhle des Polyphem fliehen, wird aber von Poseidon mit zehnjähriger Irrfahrt über die Meere bestraft. Homers mythische Erzählung wird von Verne modern umgedeutet. Nemo ist der indische Prinz Dakkar, der um Indiens Unabhängigkeit kämpfte, dessen Familie umgebracht wurde, der England als Kolonialherrn aus tiefstem Herzen hasst und aus Abscheu vor der zivilisierten Welt in die Unterwasserwelt flieht. „Das Meer ist außerhalb der Macht der Tyrannen. An seiner Oberfläche können sie noch auf ihr unbilliges Recht pochen, sich bekämpfen, sich vernichten, alle Schrecken verüben. Aber dreißig Fuß tiefer endet ihre Willkür, gilt ihr Wort nichts, ist ihre Macht nichtig. Ach, mein Herr, leben Sie, leben Sie auf im Schoß des Meeres! Hier allein ist Unabhängigkeit! Hier beugt mich kein Regiment! Hier bin ich frei!“

Im Zeitalter des Kolonialismus erhält die alte Leidenschaft für die Seefahrt neue Qualitäten. Zwar ist das Meer weiterhin eine elementare und furchteinflößende Realität, in der weder die Orientierungen noch die Gesetze des festen Landes gelten, aber gerade seine Unberechenbarkeit und seine Unwägbarkeiten machen es so anziehend. Je stärker es im Zeitalter der Moderne von territorialen Mächten reklamiert wird, desto mehr verwandelt es sich durch Einbildungskraft in einen exotischen Sehnsuchts- und Fluchtraum. Wie in Jules Michelets großem naturkundlichem Werk „La Mer“ (1861) ist auch bei Jules Verne der Ozean der Ort, an dem sich das Leben in seiner paradiesischen Fülle entfalten kann. Es ist – neben der Luft – der bevorzugte Schauplatz eines abenteuerlichen Reisens, das sich in diesem Element als schwereloses Schweben vollzieht.

Eben solche Unbeschwertheit macht Vernes Meeresfahrzeuge zu idealen Orten des Lesens und Schreibens. Nemos Unterseeboot „Nautilus“ beherbergt eine wohlausgestattete Bibliothek mit den wichtigsten Werken der Philosophie, Literatur und Naturwissenschaft. Den Wunsch nach einer Schreibwerkstatt auf dem Meer erfüllte sich Verne selbst, sobald er seinen literarischen Durchbruch schaffte. Den Roman „Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer“ etwa schrieb er großteils in seinem Arbeitszimmer auf dem eigenen Schiff, während er entlang der französischen, spanischen und englischen Küste segelte. Knapp ein Jahrzehnt später kaufte er bereits eine Dampfyacht von gut 30 Meter Länge, deren Mannschaft für den ungestörten Komfort des Schreibenden sorgte.

Diese gesicherte Schreibsituation, die zugleich die Seefahrt als kontrolliertes Abenteuer erfahrbar macht, findet ihr verschobenes Spiegelbild im Interieur der „Nautilus“. Neben der prachtvollen Bibliothek ist sein Prunkstück der Salon, eine Kombination aus Gemäldegalerie und Naturkundemuseum. Von diesem Salon aus kann der Reisende durch eine Glasscheibe das Meer und seine Bewohner, beleuchtet von den Scheinwerfern des U-Boots oder gar vom „lebenden Licht“ phosphoreszierender Infusionstierchen, bewundern. Was in den wissenschaftlichen Büchern beschrieben und im Naturkundemuseum ausgestellt ist, wird so durch die lebendige Anschauung verifiziert. Auch wenn die Insassen der „Nautilus“ zur Jagd im Unterwasserwald aufbrechen, sind sie durch Taucheranzüge vor den Angriffen gefährlicher Meeresbewohner geschützt. Die Technik ermöglicht es, die wilde Natur gefahrlos zu genießen.

Vernes Seefahrzeuge sind weit eher Wohnung als Transportmittel. „Die Weite ihrer Reisen steigert noch das Glück ihrer Abgeschlossenheit und die Vollkommenheit der in ihnen wohnenden Menschen. Der Nautilus ist die ideale Höhle, und das Genießen der Abgeschlossenheit erreicht dann seinen Paroxysmus, wenn es möglich ist, aus dem Schoß dieses nahtlosen Innern durch eine große Scheibe das unbestimmte Außen des Wassers zu sehen und damit durch ein und dieselbe Bewegung das Innere durch sein Gegenteil zu bestimmen.“ (Roland Barthes) Die „Nautilus“ ist die Idylle, die uns nach Jean Paul das Vollglück in der Beschränkung beschert: Ort uteraler Geborgenheit und Paradigma bürgerlicher Autarkie. Das submarine Habitat bezieht seine Energie direkt aus dem Meer. Am Meeresboden wird Steinkohle abgebaut, aus der Elektrizität erzeugt wird. „Dem Meer verdanke ich alles: Es sorgt für Elektrizität, und die Elektrizität verhilft dem Nautilus zu Wärme, Licht, Bewegung, kurz: zu seinem Leben.“ Elektrizität ist die Grundlage einer Utopie der Bewegung, die vom industriellen Produktionsprozess losgelöst und deshalb von Ausbeutung und Unterdrückung völlig frei ist.


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mare No. 69

No. 69August / September 2008

Von Roland Innerhofer

Roland Innerhofer, geboren 1955 in Meran, Germanist, Historiker und Philosoph, habilitierte sich mit einer Archäologie der deutschen Science-Fiction. Er lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien. Zuletzt gab er den Band „Bauformen der Imagination. Ausschnitte einer Kulturgeschichte der architektonischen Phantasie“ (2007) heraus. Alle wissenschaftlichen Disziplinierungen konnten seiner Jugendliebe zu Jules Verne nichts anhaben – im Gegenteil, sie stachelten sie nur noch mehr an.

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Vita Roland Innerhofer, geboren 1955 in Meran, Germanist, Historiker und Philosoph, habilitierte sich mit einer Archäologie der deutschen Science-Fiction. Er lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien. Zuletzt gab er den Band „Bauformen der Imagination. Ausschnitte einer Kulturgeschichte der architektonischen Phantasie“ (2007) heraus. Alle wissenschaftlichen Disziplinierungen konnten seiner Jugendliebe zu Jules Verne nichts anhaben – im Gegenteil, sie stachelten sie nur noch mehr an.
Person Von Roland Innerhofer
Vita Roland Innerhofer, geboren 1955 in Meran, Germanist, Historiker und Philosoph, habilitierte sich mit einer Archäologie der deutschen Science-Fiction. Er lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien. Zuletzt gab er den Band „Bauformen der Imagination. Ausschnitte einer Kulturgeschichte der architektonischen Phantasie“ (2007) heraus. Alle wissenschaftlichen Disziplinierungen konnten seiner Jugendliebe zu Jules Verne nichts anhaben – im Gegenteil, sie stachelten sie nur noch mehr an.
Person Von Roland Innerhofer