Das Gespenst der Sonne

Der grüne Blitz über dem Horizont bei Sonnenuntergang ist ein seltenes physikalisches Phänomen. Die wenigsten haben ihn je gesehen. Das gereicht ihm zur Aura des Mythischen

Meteorologische und himmlische Ereignisse scheinen Menschen immer schon seltsam fasziniert zu haben. Je seltener das Phänomen, desto größer die Faszination. Auch heute sind viele Nichtwissenschaftler bereit, Kontinente zu durchqueren, um eine totale Sonnenfinsternis zu beobachten. Was sie anzieht, ist nicht nur die Aussicht auf ein einmaliges Erlebnis, sondern, wie ich vermute, auch der Überrest alter abergläubischer Vorstellungen, dass es eine besondere Bedeutung habe. Unsere Welt ist so weit gezähmt und entmystifiziert, dass wir den Drang haben, die Ehrfurcht vor ihr von der Müllkippe zurückzuholen, auf die wir unsere Naturgefühle geschmissen hatten. Daher rührt auch unser wiedererwachtes Interesse am „grünen Blitz“ oder „grünen Strahl“.

Der grüne Blitz ist etwas, das sich gelegentlich bei Sonnenuntergängen ereignet und bestenfalls ein paar Sekunden anhält, weshalb es nicht sehr häufig beobachtet wird. Er kann in dem Moment auftreten, da die Sonne hinter dem Horizont verschwindet. In der Regel zeigt sich ein smaragdgrüner heller Fleck über dem letzten Fitzelchen Sonne und hält sich dort ein, zwei Sekunden nach deren Verschwinden. In seltenen Fällen blitzt vom Ort ihres Verschwindens ein grüner Strahl auf.

Ich hatte zweimal das Glück, den grünen Blitz zu sehen. Das erste Mal geschah dies 1979, als ich allein auf einer Landspitze der philippinischen Insel Palawan saß. Ich hatte damals noch nie von diesem Phänomen gehört. Da ich mir nicht sicher war, was ich gesehen hatte, erwähnte ich es nicht, denn ich befürchtete, man könnte mich auslachen und sagen, ich hätte wohl zu viel San-Miguel-Bier getrunken. Das zweite Mal war viele Jahre später an Bord eines schottischen Trawlers in der Nordsee, als ich einen Artikel zum Thema Überfischung recherchierte. Auch diesmal sagte ich nichts, da die ganze Mannschaft auf Deck mit dem Fang beschäftigt war und jeden, der die Muße hatte, einen Sonnenuntergang zu betrachten, mit gnadenlos bissigen Sprüchen eingedeckt hätte.

Mittlerweile hat der grüne Blitz sogar in die Populärkultur Eingang gefunden. In dem Film „Fluch der Karibik 3: Am Ende der Welt“ gilt er als Zeichen dafür, dass eine Seele ins Leben zurückgekehrt ist, was in diesem Fall heißt, dass Johnny Depp als Captain Sparrow aus Davy Jones’ Spind herausgefunden hat. Schon 1986 gab es Éric Rohmers Film „Le rayon vert“, „Das grüne Leuchten“, dessen Heldin in Liebesnöten ist und als Zeichen auf den grünen Blitz hofft, von dem sie aus dem gleichnamigen Roman Jules Vernes weiß.

Dass Verne 1882 um dieses Phänomen herum einen ganzen Roman schrieb, spiegelt das wissenschaftliche Interesse des 19. Jahrhunderts: Man suchte eine Erklärung für etwas, das die Menschen seit Jahrhunderten verwunderte und das bereits die alten Ägypter bemerkt hatten. Verne beschreibt die Bemühungen seiner Heldin Helena Campbell, in Schottland den seltenen grünen Blitz zu erhaschen. Doch ihr Blick auf den Sonnenuntergang wird immer wieder gestört durch Wolken oder Segelschiffe, und als es tatsächlich zu einem grünen Blitz kommt, verpasst sie ihn, weil sie genau in diesem Moment in die Augen ihres Geliebten blickt. Verne erwähnt in seinem Roman eine Legende, die besagt, dass wer den grünen Blitz gesehen hat, in der Liebe nie die falsche Wahl trifft. Ich kann dazu nur sagen: Obschon ich den grünen Blitz gleich zweimal ge--se-hen habe, habe ich in Liebesdingen mein Leben lang katastrophal danebengegriffen. Aber das sagt über Legenden nichts anderes, als was ich bereits gewusst habe.

Wissenschaftlich lässt sich der grüne Blitz erklären mit der Brechung des Lichtes der untergehenden Sonne und den Eigenheiten unseres Sehvermögens. Die Atmosphäre funktioniert wie ein Prisma, das Sonnenlicht in seine Spektralfarben aufspaltet, die in verschiedenen Winkeln gebrochen werden. Längere Wellen wie Rot werden weniger, kürzere wie Blau und Gelb dagegen stärker gebrochen. Sinkt die Sonne dem Horizont entgegen und dringen ihre Strahlen durch die immer dichtere Atmosphäre zum Betrachter, verschwindet das Blau durch die Streuwirkung der Luftmoleküle. Bei geeigneten atmosphärischen Bedingungen verschwinden größtenteils auch Gelb und Orange, die nicht zerstreut, sondern von Ozon- und Sauerstoffmolekülen sowie von Wasserdampf absorbiert werden. Wenn die Sonne hinter dem Horizont versinkt, sind nur noch Rot und Grün übrig. Weil das menschliche Auge vom grellen Rot überwältigt wird, kann es die grüne Komponente zunächst nicht als gesonderte Farbe wahrnehmen.

Tatsächlich zeigen Spezialfotografien Folgendes: Wenn die Sonne zur Hälfte versunken ist, hat ihr oberer Saum eine deutlich grüne Färbung. Sowie die rote Scheibe verschwindet, schrumpft der grüne Saum und konzentriert sich: Je mehr er sich zu einem bloßen Punkt zusammenzieht, desto heller wird er. Das Grün wird für das menschliche Auge erst im letzten Moment sichtbar, wenn das Rot verschwunden ist. Dann zeigt sich plötzlich ein grüner Fleck und nehmen wir einen grünen Blitz wahr.

Nun kann man sich fragen, warum das nicht jedes Mal zu beobachten ist, wenn die Sonne bei klarem Himmel untergeht. Es ist leider so: Die atmosphärischen Bedingungen müssen genau richtig sein. Der Effekt geht verloren, wenn die gelben und orangen Wellen nicht gründlich genug absorbiert werden. Einen grünen Blitz zu erhaschen kommt deshalb seltener vor als in Europa beispielsweise das Nordlicht, weshalb der grüne Blitz seiner prosaischen Erklärung zum Trotz von einer Aura des Mystischen umgeben ist.

Falls jemand bezweifeln sollte, dass die Atmosphäre wie ein Prisma funktioniert: Derselbe Effekt ist auch die Erklärung dafür, dass die Sonnenscheibe immer stärker verzerrt wird, wenn sie kurz auf dem Horizont zu stehen scheint und dann dahinter versinkt. Das Licht ihrer Unterkante wird stärker gebrochen als dasjenige der Oberkante. Dadurch scheint ihr unterer Teil etwas weiter oben zu sein, als er sein sollte, was das Breiterwerden zur Folge hat. Ebenfalls der Brechung wegen sehen wir die Sonne noch eine Weile, nachdem sie hinter dem Horizont versunken ist: Ihre Strahlen biegen sich dann gleichsam über der Erdkrümmung. Der grüne Blitz ist somit ein Gespenst der untergegangenen Sonne.


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mare No. 68

No. 68Juni / Juli 2008

Von James Hamilton-Paterson

James Hamilton-Paterson, geboren 1941 in London, ist Schriftsteller, Dichter und Journalist mit einer besonderen Neigung zum Meer. Seit Jahrzehnten lebt das Mitglied der Londoner Royal Geographical Society in der Toskana und auf den Philippinen. Zuletzt schrieb er in mare No. 56 einen Essay über das Verhältnis von Mensch und Delfin.

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Vita James Hamilton-Paterson, geboren 1941 in London, ist Schriftsteller, Dichter und Journalist mit einer besonderen Neigung zum Meer. Seit Jahrzehnten lebt das Mitglied der Londoner Royal Geographical Society in der Toskana und auf den Philippinen. Zuletzt schrieb er in mare No. 56 einen Essay über das Verhältnis von Mensch und Delfin.
Person Von James Hamilton-Paterson
Vita James Hamilton-Paterson, geboren 1941 in London, ist Schriftsteller, Dichter und Journalist mit einer besonderen Neigung zum Meer. Seit Jahrzehnten lebt das Mitglied der Londoner Royal Geographical Society in der Toskana und auf den Philippinen. Zuletzt schrieb er in mare No. 56 einen Essay über das Verhältnis von Mensch und Delfin.
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