Das Gesetz der Willkür

Das Meer ist weder Aquarium noch Badewanne. Mit Unerwartetem ist zu rechnen. Die Menschheit bekommt das manchmal böse zu spüren

Bei Urlaubern ist das Apartment am Meer beliebt, und wer es sich leisten kann, hat dort sein Haus, der Sicht wegen. In Entwicklungsländern ist es umgekehrt: Wer es sich nicht leisten kann, muss am Meer leben, weil es ihn versorgt. Der ostasiatische Fischer in einer ungesicherten Bretterbude, der erfolgreiche Geschäftsmann in Florida in einem steinernen Traum – beide suchen aus gänzlich unterschiedlichen Motiven die Nähe zum Meer. Beide sind Ausdruck einer Wanderungsbewegung, die weltweit vom Landesinnern an seine Ränder führt. Zwei Drittel der Menschheit wohnen 50 Kilometer von der Küste entfernt. Und Küsten sind die am meisten gefährdeten Gegenden der Welt.

Landnahme durch Erosion, Überschwemmungen, tropische Stürme, Sturmfluten, Tsunamis: Die Gefahren drohen meist von der Meerseite. Für sich betrachtet Naturereignisse, die die Welt seit Jahrmillionen begleiten. Erst durch die dichte Küstenbesiedlung, die Ballung von Gütern und Menschen am Meer entwickeln sie ein kaum abschätzbares Katastrophenpotenzial. Der Geophysiker Alexander Allmann kann auf eine Datenbank von Naturkatastrophen zurückgreifen, die er als „die umfangreichste und bestrecherchierte, die es gibt“, bezeichnet. Allmann gehört zu der 20-köpfigen Geo-Risikoforschungsgruppe des weltweit größten Rückversicherers Münchner Rück. Allmann stellt eine Zunahme wetterbedingter, so genannter „Elementarschadensereignisse“ fest. Im Schnitt, sagt er, gibt es jährlich 7000 bis 8000 Naturkatastrophen, die meisten davon betreffen die Küsten. „Wenn wir die letzten zehn Jahre mit den sechziger Jahren vergleichen, haben sich die Katastrophen verdoppelt, der volkswirtschaftliche Schaden hat sich versiebenfacht, und bei den versicherten Schäden haben wir den Faktor 15.“

Der Mensch knüpft große Erwartungen an das Meer. Er misst es an seinem Erholungswert. Teilt es in Strandabschnitte auf. Entfaltung soll es ihm bringen, energetische Reinigung und Befreiung des Geistes, Transzendenz. Aber so wie das Meer gibt, nimmt es auch. Führt zu und entreißt, spendet und zerstört. Nährt den Menschen und den Sturm. Das Meer bietet eine Flut an Überraschungen. Einige davon sind unerwünscht.

26. Dezember 2004. Mit bis zu 800 Kilometern je Stunde rast die Schockwelle auf die pazifischen Küsten, die 300000 Menschen in den Tod reißen wird. Das Seebeben, das den Tsunami auslöst, ist mit Stärke 9 auf der Richterskala das heftigste seit 40 Jahren. Entlang der rund 1200 Kilometer langen Bruchzone, die etwa 30 Kilometer tief in der Erdkruste liegt, haben sich die Kontinentalplatten an jenem Tag stellenweise um mehr als 20 Meter angehoben. Die freigesetzte Energie bringt die Erdachse ins Wanken. Noch zwei Tage später werden weltweit an allen ozeanischen Küsten massive Schwankungen des Meeresspiegels gemessen.

Vor 65 Millionen Jahren löscht der Aufprall eines Meteoriten die Saurier aus. Ein Tsunami von Hunderten Meter Höhe rast über das Urzeitmeer. 1755 verlieren 60000 Einwohner Lissabons durch mehrere bis zu 15 Meter hohe Wellen ihr Leben. Im August 1883 löst der Ausbruch des indonesischen Vulkans Krakatau eine Flutwelle aus, die auf Java und Sumatra 36000 Menschen tötet. Mit 516 Metern acht Meter höher als das derzeit höchste Gebäude der Welt war die Tsunami-Welle, die im Juli 1958 in der Lituja-Bucht in Alaska zwei Fischer in den Tod reißt.

Anders als bei Sturmwellen, die Oberflächenwellen sind und durch Wetterphänomene in der Atmosphäre erzeugt werden, entstehen Tsunamis unterirdisch, im Erdinnern oder auf dem Meeresboden. Die Welle läuft von der Oberfläche bis auf den Grund“, erklärt die Geophysikerin Professor Heidrun Kopp vom Kieler Leibniz-Institut für Meereswissenschaften. „Grundsätzlich sind alle pazifischen Küsten sehr stark gefährdet, denn dort treffen die Platten aufeinander. Über 90 Prozent der globalen Erdbeben finden an den Plattengrenzen statt.“

Tsunamis können überall dort auftreten, wo diese Subduktionszonen im Meer liegen, besonders vor Inselbögen, denn dort taucht die ozeanische Platte ab und schiebt sich unter die Landplatte. Auch im Mittelmeerraum, wo eurasische und afrikanische Platte gegeneinander drängen, sind Tsunamis als Folge von Seebeben möglich, durch die geringen Küstenentfernungen voneinander wären die Vorwarnzeiten sehr kurz. „Ich neige nicht zur Panikmache, aber es kann jederzeit passieren“, sagt Heidrun Kopp.

Von der Rache des Meeres ist manchmal die Rede, aber das Meer rächt nicht, die Rache ist eine Mystifizierung. Der Mensch ist dem Meer vollständig gleichgültig. Das Meer folgt seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten. Nur, dass es sich dabei nicht allzu sehr um Lebewesen kümmert, die sich gerade ein paar tausend Jahre in seiner Nähe aufhalten. Aus Sicht der Erde sind Seebeben ein notwendiges Phänomen. Gäbe es sie nicht, würde die Erde platzen. Das Meer ist weder Aquarium noch Badewanne. Mit Unerwartetem ist zu rechnen.

Bricht eines Tages der Vulkan Cumbre Vieja auf La Palma aus, würden Teile seines Kegels ins Meer stürzen. Nach Modellberechnungen würde die entstehende Flutwelle noch in New York mit 25 Meter Höhe auflaufen. Möglich, dass bis dahin noch einige Millionen Jahre vergehen. Als dagegen „in geologischer Zeitrechnung sehr akut“ bezeichnet Heidrun Kopp die für Norwegen prognostizierte Hangrutschung, bei der gewaltige Massen des Meeresbodens verschoben würden – mit Tsunami-Folge. „Nach den gegenwärtigen Berechnungen wird dies innerhalb der nächsten 20000 bis 100000 Jahre geschehen. Die Frage ist, ob die Menschheit es noch erleben wird.“

Schon einmal, vor etwa 10000 Jahren, bei der so genannten Storegga-Rutschung vor Norwegen, bei der mehr als 5500 Kubikmeter Meeresboden in mehreren riesigen Schlammlawinen in die Tiefe gerissen wurden, haben nach Berechnungen große Teile Nordeuropas unter Wasser gestanden. „Wenn es heutzutage zu einer solchen Rutschung käme“, sagt Heidrun Kopp, „wären vor allem Dänemark, Norddeutschland, Großbritannien und Island betroffen.“


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mare No. 49

No. 49April / Mai 2005

Von Andreas Wenderoth

Nach den Recherchen beschloss Autor Andreas Wenderoth, Jahrgang 1965, seinen Traum vom Haus am Meer zu überdenken. Er fühlt sich nun in Berlin ungemein sicher.

Was der Fotograf Paolo Pellegrin, Jahrgang 1964, in Nordsumatra vorfand, war weit jenseits dessen, was er sich vorgestellt hatte. Ungläubig schaute er bei seiner Arbeit gelegentlich auf das ruhige Meer, um sich in Erinnerung zu rufen, dass es dieses scheinbare Idyll war, was die Zerstörung verursacht hatte.

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Vita Nach den Recherchen beschloss Autor Andreas Wenderoth, Jahrgang 1965, seinen Traum vom Haus am Meer zu überdenken. Er fühlt sich nun in Berlin ungemein sicher.

Was der Fotograf Paolo Pellegrin, Jahrgang 1964, in Nordsumatra vorfand, war weit jenseits dessen, was er sich vorgestellt hatte. Ungläubig schaute er bei seiner Arbeit gelegentlich auf das ruhige Meer, um sich in Erinnerung zu rufen, dass es dieses scheinbare Idyll war, was die Zerstörung verursacht hatte.
Person Von Andreas Wenderoth
Vita Nach den Recherchen beschloss Autor Andreas Wenderoth, Jahrgang 1965, seinen Traum vom Haus am Meer zu überdenken. Er fühlt sich nun in Berlin ungemein sicher.

Was der Fotograf Paolo Pellegrin, Jahrgang 1964, in Nordsumatra vorfand, war weit jenseits dessen, was er sich vorgestellt hatte. Ungläubig schaute er bei seiner Arbeit gelegentlich auf das ruhige Meer, um sich in Erinnerung zu rufen, dass es dieses scheinbare Idyll war, was die Zerstörung verursacht hatte.
Person Von Andreas Wenderoth