Das Geheimnis der Schietgängs

Wenn sich die Kesselklopfer in den Hamburger Docks verständigen wollten, mussten sie gegen den Lärm ihrer Hämmer anbrüllen. Da erfanden sie eine Sprache, in der schrille Vokale den Ton angeben

Der Weg hinein ins Inferno war ein Oval von 40 Zentimeter Länge. Hinein in ewiges Schwarz, in ein Verlies aus Eisen, vollgestopft mit Rohren, zu Paketen eng gebündelt und durch Schotte voneinander getrennt, die wiederum mit Schlupflöchern versehen waren, Boden und Wände und alles bedeckt mit einer Schicht von steinharten Belägen, die widerlich nach Öl und Moder stanken und deren Gluthitze noch kaum erträglich verstrahlt war.

Diese Vorhöfe der Hölle fanden sich in den Docks von Hamburg, und die, die hineinmussten, waren Kedelklopper, wie sie auf Plattdeutsch hießen, Kesselklopfer. Mit dem Mut der Hungerleider verrichteten sie die niederste Arbeit, die im Hafen zu vergeben war. Im fahlen Licht ihrer Karbidlampen hatten sie mit schweren Hämmern den Kesselstein abzuschlagen, den kondensierendes Wasser in den Höllenmaschinen der Dampfschiffe hinterlassen hatte. Dazu waren sie mit hoch erhobenen Armen durch das Oval, das „Mannloch“, in den Kessel geglitten und dann für Stunden im heißen Dunkel verschwunden. Hier hinein passte niemand, der einen wohlgenährten Bauch besaß. Aber wie sollte der auch schwellen bei Menschen, die solch elende Arbeit zu leisten hatten? Nur eines war noch schlimmer als die klaustrophobisch machende Enge, als Anstrengung und Schmutz: der nervenzer¬fetzende Lärm, den die Kedelklopper mit den unzähligen Schlägen ihrer Hämmer auf das hohle Eisen verursachten.

Die Arbeit dieser „Schietgängs“ war um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, als Dampfschiffe die Segelschiffe verdrängten. Sie war nötig geworden, weil durch den aggressiven Belag die Kesselrohre porös wurden. Außerdem platzten durch thermische Spannungen Placken des Steins vom Kessel ab; wegen des dar¬auf am blanken Stahl explosionsartig verdampfenden Wassers konnte Überdruck das Ganze zum Bersten bringen. Kesselsteinexplosionen waren gefürchtet und forderten viele Opfer. Während längerer Liegezeiten der Dampfer, je nach Art der Fracht bis zu zehn Tagen, wurden die Kessel regelmäßig zum Abschlagen des Kesselsteins abgestellt. Drei Tage dauerte es, bis die heißen Tanks so weit abgekühlt waren, dass die Kedelklopper hineinkonnten. Aber oft genug hatten die Reeder keine Zeit, so lange zu warten.

In den Quartieren der angestammten Hafenarbeiter fanden sich während des Booms Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr genug Verzweifelte, die zu dieser Schufterei fähig waren. Es waren Zugezogene oder Wanderarbeiter, die Ärmsten der Armen, die sich in der Auswandererstadt zum Kedelkloppen heuern ließen, oft nur eine Zeitlang, bis das Geld für eine Überseepassage reichte oder ein Aufstieg, vielleicht zum Nieter, möglich war, denn lange konnte man den Beruf nicht ausüben, ohne dauerhaft Schaden zu nehmen.

Die Kedelklopper waren eine verschworene Gemeinschaft. Gegen Spott und Häme der übrigen Werftarbeiter wappneten sie sich mit rauer Geschlossenheit und derbem Gebaren. Aber vor allem mit einem Schild, der wirksamer kaum sein konnte: eine eigene Sprache. Nur Kedelklopper sprachen sie und bestenfalls ihre Angehörigen, die „Kedelkloppersprook“, die vor einem halben Jahrhundert untergegangen und ein wenig bekanntes Stück der Hamburger Sozialgeschichte ist.

So klein und ausschließlich der Kreis der Sprecher war, ihre Grundlage war das übliche Hamburger Plattdeutsch – aber mit einer effizient verfremdenden Zutat, die schnell gelernt war.

Sämtliche mit einem Vokal beginnenden Wörter – also solche, die ein A, E, I, O oder U als Anlaut haben –, erhielten am Ende des Wortes oder der Silbe ein I angehängt – „ich“ wurde also zu „ichi“. Bei Wörtern dagegen, die mit einem oder meh¬reren Konsonanten anfangen, wurde der oder die Konsonanten an das Ende des Wortes oder eines Wortteils gesetzt – aus „Mann“ wurde „Annmi“, aus „Kedel-Klopper“ „Edelki-Opperkli“, aus „Pause“ „Ausepi“. Flüssig gesprochen klang das Ganze so vollkommen unverständlich und exotisch, dass Nichteingeweihte es für einen italie¬nischen Dialekt oder Finnisch hielten.

Dabei hatte die Verfremdung eine denkbar plausible Ursache. Im infernalischen Lärm der Hammerschläge war eine Verständigung auf Platt kaum möglich. Irgendwann musste ein einfallsreicher Kesselklopfer auf den i-Trick mit Silbentausch gekommen sein. Da nun jedes Wort mit einem Vokal begann, der laut ausgerufen werden kann, und sie den Anfangskonsonanten des Ursprungsworts mit einem wiederum laut rufbaren I am Ende des Wortes betonten, hatten sie die Hörbarkeit verbessert – eine raffinierte Verständigungsmethode unter extremen Kom¬munikationsbedingungen. (Audiodateien mit Sprachproben finden Sie im Internet unter www.mare.de/kedelklopper.)


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mare No. 66

No. 66Februar / März 2008

Von Karl J. Spurzem

Karl Spurzem, geboren 1959, ist Chef vom Dienst bei mare.

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Vita Karl Spurzem, geboren 1959, ist Chef vom Dienst bei mare.
Person Von Karl J. Spurzem
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