Das Geheimnis der „Erlangen“

Eine der großen Fluchten der Seefahrt: Im Zweiten Weltkrieg jagte Englands Kriegsmarine einen deutschen Frachter durch den Südpazifik. Ein Weltumsegler reist seinen Weg nach

Sie ist fast nicht zu entdecken. Das Undurchdringliche ihres Zweigwerks führt ihren Namen ad absurdum: Erlangen Clearing, „Erlangen-Lichtung“. Hier ist es leichter zu krabbeln als zu gehen. Noch leichter ist es zu sitzen.

Ich schaue mich nach einem Platz um und entdecke hier, in einem der südlichsten Wälder der Welt auf Neuseelands subantarktischen Auckland-Inseln, einen verwitterten Baumstumpf, dessen perfekter Schnitt befremdlich mit dem Wildwuchs der Umgebung kontrastiert. Dann finde ich andere platte Stümpfe, jeder einzelne eine Entdeckung, und nehme Peilungen. Doch immer versperrt die Figure of Eight Island den direkten Blick in den nördlichen Arm des Carnley Harbour, den Kanal, der Auckland Island von Adams Island trennt. Ein perfektes Versteck. Erst seit Kurzem weiß ich, dass Brunos Lebensschicksal sich auf verschlungene Weise mit dieser Lichtung verknüpft.

Bruno Pichner, der Vetter meiner Mutter, Kapitän und einzige Kaphoornier unserer an Seefahrern nicht armen Familie.

„Wohin? Auckland-Inseln? Weißt du von der Erlangen Clearing?“, hat er mich gefragt. Dass ausgerechnet er eine Reise miterlebte, die in der Seefahrt ohne Parallele ist. Eine der ungewöhnlichsten Fluchten des vergangenen Jahrhunderts, die hier begann und von der nichts Greifbares blieb als diese Stümpfe.

Am 30. August 1939, zwei Tage vor Kriegsausbruch, mit aussichtslos knappen 155 Tonnen Kohle, gerade genug für drei Tage Dampf, wartet der deutsche Handelsdampfer „SS Erlangen“ vom Norddeutschen Lloyd vor den Auckland-Inseln auf Morgenlicht. Abgelegen, unbewohnt und mit wenig Kohle erreichbar: Das macht diesen Flecken für Kapitän Alfred Grams und seine 63-köpfige Besatzung so anziehend. 250 Seemeilen südlich von Neuseeland inmitten der Hauptsegelrouten des Südmeers gelegen – und lange Zeit auf Seekarten mit falscher Position geführt –, wurde dieser Archipel schon für viele Schiffe zum Verhängnis, die irrtümlich meinten, das unerklimmbare, 20 Meilen lange und 600 Meter hohe Westkliff bereits passiert zu haben. Die wenigen Schiffbrüchigen, die es an Land schafften, verhungerten zumeist. Kapitän Grams liegen kaum nautische Informationen vor, auch keine Tiefenangaben, als er das Schiff vorsichtig in einem Slalom vorbei am Point Perpendicular in das äußerste Eck der ihm zugänglich gebliebenen Welt lotet. Endlich rasselt der Anker. Etwa an der Stelle, an der unsere „Wanderer III“ jetzt liegt. Einsam, verlassen, verschluckt von grauem Niesel.

Dass es die „Erlangen“ überhaupt dorthin geschafft hat, ist schon erstaunlich. Im neuseeländischen Hafen Dunedin, von dem sie, um einer Konfiszierung bei Kriegsausbruch zuvorzukommen, zwei Tage vorher aufgebrochen war, hatte keiner damit gerechnet. Ihr überschaubarer Kohlevorrat würde ihr bei einem Tagesverbrauch von 50 Tonnen keine großen Sprünge erlauben, geschweige denn genügen, um neutrales Gebiet zu erreichen. Der lokale Lotse hatte Kapitän Alfred Grams nach vorzüglichem Frühstück mit gutem deutschen Bier freundlich „a happy trip“ gewünscht. Äußerlich schien alles wie immer. Am 28. August 1939 war die Welt noch friedlich, nur – das spürten beide – hielt sie den Atem an. Dann verließ der Lotse das Schiff, und Kapitän Grams setzte den Kurs ordnungsgemäß auf den Kohlehafen Port Kembla im australischen New South Wales ab. Es hieß Ruhe bewahren, nordwärts halten. Noch im Hafen hatte ein erstes Telegramm der deutschen Küstenfunkstelle Norddeich Radio von „drohender Kriegsgefahr“ gesprochen. „Innerhalb vier bis fünf Tagen einen neutralen Hafen anlaufen“, hieß es dann in einem zweiten Telegramm, das ihn auf See erreichte. Vollkommen unmöglich. Was tun? So wendete er mit Anbruch der Nacht seine „Erlangen“ um 180 Grad und ließ Südkurs halten, einem subantarktischen Wald entgegen, von dem er nur wenig wusste.

Und nun rasselt der Anker. Eine Woche vergeht, zwei Wochen. Nach drei Wochen ist das spurlose Verschwinden der „Erlangen“ im mittlerweile feindlichen Neuseeland ein maritimes Rätsel. Angesichts ihres limitierten Kohlevorrats, der gerade die Querung der Tasmanischen See erlaubte, hätte sie irgendwo auftauchen müssen. Aber Australien meldet nichts, die Inseln der Südsee nichts, und Sichtungen nahe der Stewart-Insel erweisen sich als Gerüchte. Wohin kann sie entkommen sein? Die Route nach Japan ist mit englischen Stützpunkten gespickt. Kohle- wie Proviantmangel verwehren ihr das Erreichen der neutralen, 5000 Seemeilen entfernten Gewässer Südamerikas. Ihr geografischer Spielraum ist winzig. Mit einem Fluchtradius von höchstens 1200 Seemeilen müsste sie bald ins Netz gehen, als erste Beute des Krieges. Es sei denn, ein heimliches Rendezvous mit dem einzigen anderen deutschen Schiff im Südpazifik, der „SS Lahn“, ist gelungen.

Dieses war voll beladen mit Kohle und, durchproviantiert, bei Kriegsausbruch Sydney entschlüpft. Ansonsten, vermutet die britische Admiralität in Neuseeland, gibt es nur zwei Inselreiche, die bieten, was Grams braucht: die Campbell- und die Auckland-Inseln in der Subantarktik Neuseelands, südlich des 50. Breitengrads. Noch im September schickt die Admirality ihren Kreuzer „HMS Leander“ auf Inspektion dorthin. In den Buchten von Campbell Island stößt man auf nichts Verdächtiges, und beim Osteingang zum Carnley Harbour im Süden der Auckland-Inseln trifft man nur auf infernalisches Wetter. Der Point Perpendicular ist nicht zu passieren, sodass man nach mehrstündigem Warten abdreht in der Hoffnung, später am Tag von einer anderen Bucht das mitgeführte Flugzeug zu einem Erkundungsflug über Carnley Harbour zu katapultieren.


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mare No. 73

No. 73April / Mai 2009

Von Thies Matzen

Der gelernte Bootsbauer Thies Matzen segelt seit fast drei Jahrzehnten mit seiner Holzyacht „Wanderer III“ über die Meere der Welt und sammelt deren Geschichten. Seit zehn Jahren vornehmlich in den hohen südlichen Breiten unterwegs, befindet er sich augenblicklich auf einer Insel ohne Bäume, dem antarktischen Südgeorgien.

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Vita Der gelernte Bootsbauer Thies Matzen segelt seit fast drei Jahrzehnten mit seiner Holzyacht „Wanderer III“ über die Meere der Welt und sammelt deren Geschichten. Seit zehn Jahren vornehmlich in den hohen südlichen Breiten unterwegs, befindet er sich augenblicklich auf einer Insel ohne Bäume, dem antarktischen Südgeorgien.
Person Von Thies Matzen
Vita Der gelernte Bootsbauer Thies Matzen segelt seit fast drei Jahrzehnten mit seiner Holzyacht „Wanderer III“ über die Meere der Welt und sammelt deren Geschichten. Seit zehn Jahren vornehmlich in den hohen südlichen Breiten unterwegs, befindet er sich augenblicklich auf einer Insel ohne Bäume, dem antarktischen Südgeorgien.
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