Wer eine Tour über das Gelände der Universal Studios in Los Angeles unternimmt, den erwarten allerlei Schrecknisse. Im U-Bahn-Schacht beginnt der Boden zu beben, die Wände stürzen ein, Feuer bricht aus; an der Hochbahnstrecke erscheint plötzlich King Kong und schuckelt an den Gleisen. Nichts jedoch ist so markzerfetzend, blutgefrierend und nervenerschütternd wie jene Überraschung, die die arglosen Besucher erwartet, kurz nachdem das Besichtigungszüglein den lauschigen Küstenort Cabot Cove aus der Fernsehserie „Mord ist ihr Hobby“ passiert hat.
Aus dem friedlich daliegenden Gewässer schießt plötzlich eine geballte Ladung Fisch hervor, ein riesiger Körper, der vor allem aus einem zu bestehen scheint: Maul. Darin blitzt ein umfangreiches Arsenal der spitzesten, fiesesten und rasiermesserartigsten Zähne, die sich eine extrem böswillig geartete menschliche Fantasie ausmalen kann. Das ebenso plötzliche wie wuchtige Auftauchen des berühmten weißen Haies lässt selbst den hartgesottensten Horrorfreund fast aus dem Wagen kippen.
Doch mag der mordlustige Vielfraß aus dem Filmhit „Jaws“ eine Leinwandfantasie sein, seine imposante Zahnreihe findet sich millionenfach in den Mäulern realer Artgenossen in allen sieben Weltmeeren. Steven Spielbergs Film und jene Splattermovies mit Hai, die im Kielwasser seines Erfolges entstanden, sorgten dafür, dass seit 1974 niemand mehr in einem Küstengebiet, das nur entfernt im Verdacht steht, von Haien bewohnt zu sein, ins Wasser geht, ohne sich permanent den Hals zu verrenken bei dem Versuch, bloß rechtzeitig die ominöse Rückenflosse zu erspähen.
Einen schlechten Ruf hatte der Hai aber schon vorher. Seine lautlose Schnelligkeit, die kalten Killeraugen, die Vehemenz seines Zubeißens sowie der ihm nachgesagte notorische Blutdurst machen ihn zum Prototyp des heimtückischen Menschenfressers. Ein rundum übler Bursche, der in der Regel nicht auf den Respekt oder die Hochachtung rechnen kann, die anderen Raubtieren wie Löwen, Tigern oder Grizzlybären entgegengebracht wird. Haie sind das fischgewordene Grauen, „ebenso schädliche wie furchtbare Tiere“ (Brehms Tierleben), „raubgierige Monster“ (der Haijäger William Young), „reißende Wölfe des Meeres“ (der Autor Zane Grey). Insbesondere „Carcharodon carcharias“, der berüchtigte „Große Weiße Hai“, gilt als Tötungsmaschine, der letzte freie Räuber, der auf Menschenjagd geht.
„Solche räuberischen Wesen“, resümiert Alfred Brehm die menschliche Antipathie gegen den Schrecken, der aus der Tiefe kommt, „haben allseits unsere Rachsucht heraufbeschworen und uns zu unerbittlichen Feinden gemacht.“ Da hilft es dem armen Hai wenig, dass wohlgesonnenere Zeitgenossen darauf verweisen, daß die Autofahrt zu einem Strand in Florida oder Australien allemal gefährlicher ist als das Baden an selbigem. Sein miserables Image ist ein für allemal zementiert.
Der Höhepunkt der Haihysterie liegt eindeutig im 20. Jahrhundert, doch auch schon früher galt der bissfeste Fisch als denkbar unangenehmer Meeresbewohner. Er trat aber längst nicht so häufig in Erscheinung, was einen einfachen Grund hat: Die Menschen gingen nicht gern ins Wasser, und ins salzige schon gar nicht. Das massenhafte Schwimmen im Meer ist eine moderne Erscheinung, in früheren Jahrhunderten wurden vorzugsweise Schiffbrüchige mit der See und ihren Fährnissen konfrontiert.
Schiffbruch geschah jedoch meist bei stürmischer See, und die Betroffenen waren ertrunken, bevor der erste Hai auch nur gemerkt hatte, dass der Tisch gedeckt war. Und wenn es Überlebenden gelang, sich auf ein Floß zu retten, war die Gefahr, von den eigenen Kumpanen verspeist zu werden, erheblich größer als die, Haien zum Opfer zu fallen. In Edgar Allan Poes „Erzählung des Arthur Gordon Pym“ etwa werden die vier Überlebenden auf ihrem schwer beschädigten Schiff zwar von Haischaren begleitet, die ihnen das erfrischende Bad im Meer vermiesen. Den Tod findet der erste Schiffbrüchige jedoch durch seine Leidensgenossen, die ihn nach dem Ziehen von Losen unerbittlich schlachten und aufessen. Pym und ein weiterer Mann werden gerettet, der dritte wird tatsächlich von den Haien gefressen, aber erst, nachdem er elend an Wundbrand gestorben ist und ins Wasser geworfen wird.
Eine Ausnahme waren stets Seeschlachten, bei denen zahlreiche Verwundete und Tote die Haie in ihre berüchtigte „feeding frenzy“, ihren Fressrausch, verfallen ließen. In diese Kategorie gehören jene „Haikatastrophen“, die sich im Zweiten Weltkrieg ereigneten, als im Pazifik zum Beispiel der britische Dampfer „Nova Scotia“ oder der amerikanische Kreuzer „Indianapolis“ versenkt wurden und Hunderte von Menschen Opfer der Haie wurden. Interessanterweise griffen die Tiere fast ausschließlich tote oder verwundete Schiffbrüchige an. Die unverletzten blieben weitgehend verschont. Auf der anderen Seite gab es in jener Zeit rund 2500 bekundete Flugzeugabstürze ins Meer und zahlreiche blutige Seeschlachten, bei denen überhaupt keine Haie auftauchten.
Ein erstaunlicher Haimangel herrscht auch in den Erzählungen des wohl berühmtesten Schiffbrüchigen aller Zeiten: Sindbad der Seefahrer. Man fragt sich, wie dieser Unglücksrabe noch einen Kapitän fand, der ihn die Planken seines Kahnes betreten ließ, denn kaum ein Schiff, das den Kaufmann aus Bagdad an Bord nahm, erreichte je sein Ziel. Der einzige Überlebende hieß stets Sindbad, und er trieb oft tagelang im Meer dahin, bis er schließlich an den Gestaden irgendeiner Insel, eine obskurer als die andere, angetrieben wurde. Von Begegnungen mit hungrigen Fischen weiß der nahöstliche Glück-im-Unglück-Spezialist kaum zu berichten.
Nur einmal, auf seiner siebenten Reise, wird das Schiff, auf dem er segelte, von drei Fischen, „groß wie ein hoher Berg“ und von „grausiger Gestalt“, belagert.
Mit einigem Wohlwollen und eingedenk der gravierenden Übertreibungskunst, die Sindbad gemeinhin an den Tag legt, kann man diese Fische getrost als Riesenhaie identifizieren. „Da verloren wir Verstand und Besinnung und wurden von Furcht und Grausen völlig verstört“, berichtet der Seefahrer, doch glücklicherweise kommt „ein heftiger Windstoß“ dem Angriff der Meeresungeheuer zuvor und reißt alle in den Tod. Außer Sindbad natürlich, der, nunmehr von jeglichem Seegetier unbehelligt, ein paar Tage im Meer treibt, bis er eine seiner beliebten Inseln erreicht.
Wohlbekannt waren Haie zu Sindbads Zeit den Menschen durchaus. Schon im zweiten Jahrhundert schrieb der griechische Poet Oppian leicht hetzerisch über sie: „Welche Beute sollte ausreichen, um ihren schrecklichen Rachen, die Leere ihres Magens zu füllen, ihre unersättlichen Kiefer zufriedenzustellen oder sie Atem schöpfen zu lassen?“ Zudem kann man davon ausgehen, dass viele jener Meeresmonster und Seedrachen, die in der Sagenwelt auftauchen, in Wahrheit Haie waren.
Umstritten dagegen ist die Identität des furchtbaren Ungeheuers, das Poseidon der Sage nach an Alexander dem Großen vorbeischwimmen ließ, als dieser sich in einer Glastonne in die Tiefen des Ozeans hinab ließ. Zwei Tage und zwei Nächte dauerte das Defilee, bis schließlich der Schwanz des Ungetüms auftauchte, ein Zeitraum, der doch eher auf einen Wal schließen lässt. Ein Hai war dafür gewiss der gewaltige Fisch, der Alexanders Tonne ins Maul nahm und diese samt des daran geketteten Bootes, auf dem die Gefährten des Eroberers auf dessen Rückkehr warteten, zwei Meilen weit schleppte, bevor er sie wieder ausspuckte.
Später wurde es still um den Hai, und auch die großen Seefahrer in der Zeit der Entdeckungen hatten in dieser Hinsicht nicht viel zu berichten. Natürlich folgten die üblichen Haie ihren Schiffen und delektierten sich an den Abfällen und den ins Wasser geworfenen Verstorbenen. Die Todesursachen, welche die Besatzungen der Schiffe dezimierten, waren jedoch eher Skorbut, fatale Händel mit Arbeitskollegen, Unfälle oder die unfreundliche Aufnahme durch die Bewohner entdeckter Welten.
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Matti Lieske, Jahrgang 1952, ist Volkswirt und arbeitet seit 1984 als Sportredakteur bei der taz in Berlin. In mare No. 7 schrieb er über die Piratensender der Nordsee.
Vita | Matti Lieske, Jahrgang 1952, ist Volkswirt und arbeitet seit 1984 als Sportredakteur bei der taz in Berlin. In mare No. 7 schrieb er über die Piratensender der Nordsee. |
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Person | Von Matti Lieske |
Vita | Matti Lieske, Jahrgang 1952, ist Volkswirt und arbeitet seit 1984 als Sportredakteur bei der taz in Berlin. In mare No. 7 schrieb er über die Piratensender der Nordsee. |
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