Das ewige Rauschen

Das Rauschen des Meeres gehört zum Grundinventar der mensch­lichen Klangerfahrung, tief verborgen im Unterbewusstsein

Was früher eine klingende Muschel war, liefert heute die digitale Assistentin Alexa. Zu allen Zeiten trachteten Menschen danach, das Rauschen des Meeres mitzunehmen – um, weit entfernt von allen Küsten, den Klängen der Wellen zu lauschen. Doch was passiert wirklich mit einem Menschen, der einen Nichtort wie das Meer lediglich über das Ohr wahrnehmen kann? Welche Emotionen und Erinnerungen lösen die Geräusche von Wind und Brandung in den Menschen aus und wie genau funktioniert diese Aufmerksamkeits­lenkung? 

Eine Antwort findet sich in den Erkenntnissen der Film­wissenschaft zum Sounddesign von Hollywood-Blockbustern. Sie zeigen, wie Klänge Räume erschaffen können – und wie es funktioniert, dass sich Menschen vor allem im besonderen Klangraum des Ozeans immer wieder verlieren. 

Wie komplex das Zusammenspiel von Geräuschen und Emo­tionen funktioniert, erklärt die Schweizer Medienwissenschaftlerin Barbara Flückiger in ihrem Standardwerk „Sound Design: Die virtuelle Klangwelt des Films“, in dem sie detailliert die Grund­lagen und die Geschichte der Geräusche im Kinosaal analysiert. 

Dabei beschreibt sie, wie im Kino der Stummfilmepoche zunächst Geräusche live im Kinosaal produziert wurden, die für ­jedermann erkennbare Klangimitationen blieben, also für etwas anderes standen als für das, was sie offensichtlich waren. Die Imitation der Klänge der Hufeisen von galoppierenden Pferden beispielsweise blieben fast immer als „künstlich“ erkennbar, während gleichzeitig das Kinopublikum in der Lage war, die Geräusche mit eigenen Hörerfahrungen und den Bildern auf der Leinwand zu einer ganzheitlichen Erfahrung zu verbinden. 

Der Aufwand, die Realität zeichenhaft zu imitieren, war immens. Nicht nur Hupen, Zugpfeifen und Sirenen standen den Geräuschemachern im Kino zur Verfügung, sondern auch spezielle Klangmaschinen, mit denen man Geräusche der Natur imitieren konnte, zum Beispiel das Fauchen des Windes oder eben das Rauschen des Meeres in verschiedenen Variationen. Geräte, deren Geräusche an das komplexe Zusammenspiel der Naturgewalten erinnerten, konnten verblüffend einfach ent­wickelt werden. Eine Schachtel, gefüllt mit getrockneten Erbsen, rhythmisch und mit Gefühl bewegt, erzeugte Klänge, die von den Besuchern als Brandung erkannt wurden. Mit einem Donnerblech konnte der Sounddesigner des Stummfilms von einem leichten Grollen bis hin zu grellen Blitzschlägen nahezu alle Varianten der sich entladenden Energie hervorbringen, immer noch künstlich zwar, aber doch so nahe an der Realität, dass die Zuschauer ihm glauben wollten. 

Die Einführung des Tonfilms Anfang der 1920er-Jahre be­endete das Spiel der Livegeräuschemacher, brachte aber eine überraschende Erkenntnis zutage. Denn die vielleicht wesentlichste Prämisse in der Entwicklung des Tonfilms ist bis heute, dass Geräusche ebenso wie Bilder in einem audiovisuellen ­Me­dium immer gestaltet und ausgewählt den Rezipienten erreichen und eben nicht als ungefiltertes, möglichst naturnahes ­Abbild der Realität. 

Bereits zu den Zeiten des Stummfilms war es nicht ausschließlich technisches Unvermögen, das dazu führte, dass die bewegten Bilder Szene für Szene nur mit ausgewählten Geräuschen begleitet worden waren. Im Gegenteil, die Kinomacher von damals wussten bereits sehr genau um ihre Wirkung, experimentierten neben der Musik mit dezenten, unterschwelligen Klängen, ­machten sich Gedanken um die Wirkung von naturalistischem Lärm versus leisen Tönen und waren sich sicher: Eine wirklichkeits­getreue Rekonstruktion aller Geräusche, die eine Szene in der Realität begleiteten, könnte von einem Kinozuschauendem gar nicht rezipiert werden, weil der hörende Mensch in ­jeder ­Szene seines Lebens auswählt, so wie er auch seinen Blick immer fokussiert und lenkt, um die Fülle der Eindrücke, die auf ­seine Sinnesorgane treffen, verarbeiten zu können. Indem im Kino der Neuzeit Sound­designer diese Auswahl treffen, folgen sie im Prinzip der Funk­tionsweise des menschlichen Gehörs, das eine ­immer wieder neue Fokussierung innerhalb des mehrdimensionalen Klangteppichs vornimmt, dem wir ununterbrochen ­ausgesetzt sind. 

Sprechen wir also vom Rauschen des Meeres, dann ist diese Kategorisierung bereits das Ergebnis einer Fokussierung, die wir selbst irgendwann einmal getroffen haben, mutmaßlich bei unserem ersten Strandbesuch vor langer Zeit. Denn natürlich hört man fast nirgendwo nur ein Geräusch. An den Stränden ­unserer Kindheit kamen die Stimmen unserer Eltern und Geschwister, der anderen Besucher dazu – der Wind, die Möwen­, das Knirschen der Füße im Sand, die Rufe der anderen Badegäste beim Planschen oder auch die Motoren der Fahrzeuge an der Uferstraße. 

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mare No. 155

mare No. 155Dezember 2022 / Januar 2023

Von Alexander Kohlmann

Alexander Kohlmann, Jahrgang 1978, hört gern zum Einschlafen das Rauschen des Meeres, obwohl er im Binnenland lebt. Der Theaterleiter und promovierte Medienwissenschaftler ist in seiner Arbeit immer wieder neu fasziniert von der suggestiven Wirkung von Klängen. Für mare schrieb er unter anderem bereits über den Mythos der einsamen Insel (No. 130) und den maritimen Grenzgang als sinnstiftende ­Erfahrung (No. 143).

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Vita Alexander Kohlmann, Jahrgang 1978, hört gern zum Einschlafen das Rauschen des Meeres, obwohl er im Binnenland lebt. Der Theaterleiter und promovierte Medienwissenschaftler ist in seiner Arbeit immer wieder neu fasziniert von der suggestiven Wirkung von Klängen. Für mare schrieb er unter anderem bereits über den Mythos der einsamen Insel (No. 130) und den maritimen Grenzgang als sinnstiftende ­Erfahrung (No. 143).
Person Von Alexander Kohlmann
Vita Alexander Kohlmann, Jahrgang 1978, hört gern zum Einschlafen das Rauschen des Meeres, obwohl er im Binnenland lebt. Der Theaterleiter und promovierte Medienwissenschaftler ist in seiner Arbeit immer wieder neu fasziniert von der suggestiven Wirkung von Klängen. Für mare schrieb er unter anderem bereits über den Mythos der einsamen Insel (No. 130) und den maritimen Grenzgang als sinnstiftende ­Erfahrung (No. 143).
Person Von Alexander Kohlmann