Das Ende von Little Germany

Bei einer Schiffskatastrophe vor New York kamen 1904 mehr als 1000 deutschstämmige Einwanderer um

Die Tragödie beginnt in dem geschäftigen Viertel namens „Kleindeutschland" oder „Little Germany". Seit der ersten großen Einwandererwelle in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts ist die Lower East Side die Heimat der New Yorker Deutschen. Mit den mehr als 60000 Deutschen, die dort um 1870 leben, macht das Viertel seinem Namen alle Ehre. Überall gibt es deutsche Vereine, Sportclubs, Theater, Buchhandlungen, Restaurants und Biergärten, auch Synagogen und Kirchen.

Eine dieser Kirchen, die lutherische Markuskirche in der East 6th Street, veranstaltet alljährlich am Ende des Sonntagsschuljahrs einen Picknickausflug. Zu-meist wird ein Dampfer gechartert, der die Ausflügler zu einem nahe gelegenen Park bringt, wo dann gebadet, gespielt und gepicknickt wird. Am 15. Juni 1904 gehen mehr als 1300 Menschen an Bord der „General Slocum", die sie zum Locust Grove am Long Island Sound schippern soll. Der Schaufelraddampfer, komplett aus Holz gebaut, 76 Meter lang und zugelassen für 3000 Passagiere, ist auf den Namen eines Südstaatengenerals getauft.

Kurz nach 9.30 Uhr macht die Crew die Leinen los, und das Schiff lässt die Pier hinter sich. Es dampft nach Norden, den East River hinauf, und nimmt langsam Fahrt auf. Hunderte Kinder drängen sich auf dem Oberdeck, um nichts zu verpassen. Wie an jedem Morgen herrscht dichter Verkehr auf dem Fluss - Schuten, Leichter, Tender, Schlepper. Die Erwachsenen unterhalten sich, und eine Kapelle spielt deutsche Gassenhauer.

Dann nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Als das Schiff die East 90th Street passiert, quillt plötzlich Rauch aus einem der vorderen Laderäume. Ein Funke, vielleicht nur ein achtlos weggeworfenes Streichholz, hat einen Strohballen entzündet. Die Crew versucht, das Feuer zu löschen, aber keiner hat je an einer Feuer- oder Notfallübung teilgenommen. Zudem platzen die Feuerlöschschläuche des Schiffes, sowie das Wasser aufgedreht wird; sie sind völlig porös. Als man endlich Kapitän William Van Schaick Meldung von dem Notfall macht, erst zehn Minuten nach dem Ausbruch des Feuers, sind die Flammen schon außer Kontrolle.

Der Kapitän erwägt kurz, das Schiff auf dem kürzesten Weg zu einer der Piers am East River zu steuern. Aber dort stehen gewaltige Öltanks, kein guter Nothafen für ein brennendes Schiff. Am Ufer brüllen Menschen, er soll seinen Dampfer schnell an Land bringen, aber Van Schaick entscheidet sich, mit voller Kraft zur Insel North Brother zu dampfen, eine Meile weiter. Zahlreiche kleine Boote folgen dem schwimmenden Inferno auf seiner wilden Jagd flussaufwärts.

Vielleicht hat der Kapitän ein größeres Desaster verhindert, aber um die Überlebenschancen seiner Passagiere steht es schlecht. Je schneller die „General Slocum" fährt, desto stärker werden die Flammen angefacht. In Panik rennen die Menschen über die Decks, Mütter schreien nach ihren Kindern, Männer nach ihren Frauen. Das Schiff hat gerade einen frischen Anstrich bekommen, eine hochentzündliche Farbe offenbar, denn die Flammen haben im Nu den gesamten Dampfer erfasst. Die ersten Passagiere springen über Bord. Manche versuchen noch, sich außen an der Reling festzuklammern, aber lange halten sie das nicht durch, auch sie stürzen in den East River. Die Boote im Kielwasser der „General Slocum" können einige noch rechtzeitig aus dem Wasser fischen, aber die meisten können nicht schwimmen. Unter Schock, strampeln sie um ihr Leben und ertrinken dennoch.

Die Mannschaft ist unerfahren und so hilflos, dass sie anderen kaum helfen kann. Die 3000 Schwimmwesten an Bord tun es auch nicht. Morsch sind sie und mit zerbröselndem Kork gefüllt; sie geben keinen Auftrieb. Die Rettungsboote sind sämtlich mit Draht festgezurrt und lassen sich nicht bewegen. Doch selbst wenn, man könnte sie bei voller Fahrt kaum sicher zu Wasser lassen.

Als die „General Slocum" endlich vor North Brother Island auf Grund kracht, lodern die Flammen überall, das Schiff ist verloren. Wer es wagt, springt ins Wasser, doch viele hat die Angst gelähmt, sie drängen sich an den wenigen Stellen, an denen noch nicht die Flammen hochschlagen. Auf der Insel steht ein Krankenhaus für Infektionskrankheiten; Schwestern und sogar Patienten kommen angelaufen, um zu helfen. Sie zerren Leitern heran, wuchten sie zum Dampfer hinüber, um die Eingeschlossenen aus den brennenden Decks zu holen, und fangen Kinder auf, die von verzweifelten Passagieren über die Reling geworfen werden.

Die „General Slocum" hat eine Spur des Grauens in den East River gezogen: überall verkohlte Trümmer und Schwimmwesten, Menschen, die um ihr Leben schreien und kämpfen, Retter, die tote Kinder aus Kleindeutschland bergen.

Mehr als 1300 Menschen sind an Bord gegangen, fast jeder in Little Germany kennt jemanden auf dem Schiff. Die Nachricht von der Katastrophe löst in dem Stadtteil der Einwanderer Panik aus. Niemand weiß, wohin man sich wenden soll. Tausende versammeln sich vor der Saint Mark's Church und warten auf Nachricht. Andere laufen nach Norden zur Pier an der East 23rd Street, wo ein provisorisches Leichenschauhaus eingerichtet worden ist. Hoffnung treibt die Angehörigen an, aber wer seine Familie bis zum Nachmittag nicht gefunden hat, der weiß, dass er Frau oder Kind nicht wiedersehen wird. Dutzende verlieren ihre Familien bei dem Unglück. Insgesamt kommen 1021 Menschen um ihr Leben.


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mare No. 55

No. 55April / Mai 2006

Von Edward T. O’Donnell

Edward T. O'Donnell lehrt Geschichte am College of the Holy Cross in Worcester, Massachusetts. Sein Buch Der Ausflug - Das Ende von Little Germany, New York ist soeben im marebuchverlag erschienen.

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Vita Edward T. O'Donnell lehrt Geschichte am College of the Holy Cross in Worcester, Massachusetts. Sein Buch Der Ausflug - Das Ende von Little Germany, New York ist soeben im marebuchverlag erschienen.
Person Von Edward T. O’Donnell
Vita Edward T. O'Donnell lehrt Geschichte am College of the Holy Cross in Worcester, Massachusetts. Sein Buch Der Ausflug - Das Ende von Little Germany, New York ist soeben im marebuchverlag erschienen.
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