Das Ende der Homogenität

Flucht und permanente Migration über die Meere zwingen Europas Staaten zur Suche nach neuen Formen von Gemeinschaft

Die Hauptfiguren unserer Epoche sind der Homo sacer und der Homo faber. Beide sind Menschen mit Leib und Seele, Verstand und Würde, und doch unterscheiden sie sich fundamental. Der Homo sacer hat nichts als sein nacktes Leben. Er hat nichts außer sich. Nirgends ist er zu Hause, Heimat hat er nicht. Der Entwurf seines Lebens ist physisch: die Nacktheit der entblößten Existenz. Sein Schicksal ist die Permanenz der Bedrohung. Er befindet sich im permanenten Ausnahmezustand, sein Leben steht permanent zur Disposition. Er befindet sich jenseits der Sphäre des Rechtes.

Der Homo faber hingegen lebt in der Sphäre des Rechtes und im Raum der Behausung. Sein Leben ist zu jeder Zeit rechtlich gesichert. Er ist der Mensch der Mathematik und Kontrolle,  der Organisation und Effizienz. Der Entwurf seines Lebens ist kognitiv: die Messbarkeit, Rationalität und Künstlichkeit. Sein Schicksal ist die Bedrohung durch Permanenz: Er ist permanent im Aufbruch, unter Zeitnot, zu Flexibilität, Kreativität, Kalkulation, zu Innovation und Mobilität gezwungen. Der Homo faber migriert durch den Weltenraum unendlicher Möglichkeiten und muss sich ständig entscheiden, ohne zu wissen, wie und wofür. Ihm souffliert der Geist der Zeit: Du sollst einmalig sein! Grenze dich ab!

Der Flüchtling ist der Homo sacer, der Individualist der Homo faber. Die beiden Antipoden unserer Epoche aber haben etwas Wesentliches gemein: Beide haben ihren Geborgenheitsraum eingebüßt und beide ihre Selbstbestimmung verloren. Der Flüchtling auf der einen und der Individualist auf der anderen Seite sind die Kontrahenten im Kampf um Heimat und Identität in Zeiten dauernder Migration. Der eine physisch, der andere metaphysisch. In diesem Kampf stehen sich die Anarchie der Flucht und der Wahn der Überwachung vor dem illegalen Zutritt der Letzten Welt in  die Erste Welt scheinbar unversöhnlich einander gegenüber. Die Welt wird beherrscht vom Widerspruch zwischen Geborgenheitssuche und Grenzverlusten, und im Flüchtenden offenbart sich das Dilemma unserer Zivilisation.

Der aus dem römischen Recht stammende Begriff sacer bezeichnet die Doppeldeutigkeit des Menschen als heilig und zugleich verflucht. In seiner nackten Existenz ist der Mensch als göttliches Wesen so heilig, wie er zugleich jeglicher zivilisatorischer Bindung beraubt ist. Das Leben des Flüchtlings unter­liegt nicht mehr dem Schutz universeller Heiligkeit, die in der westlichen Kultur etwa als fundamentales Menschenrecht der selbstzweckhaften Würde gegenüber jeder souveränen Gewalt verstanden wird. Der Homo sacer unterwirft sich dreifach höherer Macht: dem Feind in Gestalt von Milizen oder Armeen, dem oft bewaffneten Schmuggler, schließlich der Natur des Meeres. Seine Flucht geschieht fast immer über ein Meer. Kam der Fliehende in biblischen Zeiten über das Rote Meer, im 20. Jahrhundert aus dem brennenden Europa über den Atlantik, so fliehen die Unbehausten heute übers Mittelmeer in den durch Prosperität und Rechtsschutz beglaubigten Kontinent.

Das Mare Nostrum ist nicht nur der Geburtsraum der kontinentalen Zivilisation, der Bühnenraum europäischer Mythologie und „westlicher“ Kultur; es ist, wie jedes Meer, zugleich auch  ein Raum ohne explizites Recht. Das Weltrechtsprinzip trifft zwar auf Piraten, nicht aber auf den Flüchtenden zu. Auf der Flucht übers Meer ist der Körper des Homo sacer zu keiner Zeit durch das unveräußerliche Menschenrecht geschützt. Auf dem Meer  ist er als Objekt der Gewalt seiner totalen Ausgeschlossenheit aus­gesetzt.

In der aktuellen Geschichte Somalias, Syriens, Jemens oder des Iraks wiederholt sich der Leidens- und Fluchtmythos der Israeliten über das Meer. Geknechtete Menschen und Völker machen sich auf den Weg in gelobte Länder, deren Bewohner sie größtenteils nicht beherbergen wollen. Der Weg aus der Versklavung ins ersehnte Reich der Freiheit beschreibt das alttestamentliche Leitmotiv schlechthin: Rettung durch Flucht, Er­lösung durch Hoffnung. Aber warum wählt der Flüchtling das Meer? „Unter den elementaren Realitäten, mit denen es der Mensch zu tun hat“, schrieb der Kulturphilosoph Hans Blumenberg, „ist ihm die des Meeres … die am wenigsten geheure. Für sie sind Mächte und Götter zuständig, die sich der Sphäre bestimmbarer Gewalten am hartnäckigsten entziehen.“

mare No. 115

No. 115April / Mai 2016

Von Christian Schüle

Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft und ist literarischer Autor und Essayist. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter den Roman Das Ende unserer Tage, zuletzt den Essay „Was ist Gerechtigkeit heute?“. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Berliner Universität der Künste.

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Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft und ist literarischer Autor und Essayist. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter den Roman Das Ende unserer Tage, zuletzt den Essay „Was ist Gerechtigkeit heute?“. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Berliner Universität der Künste.
Person Von Christian Schüle
Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft und ist literarischer Autor und Essayist. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter den Roman Das Ende unserer Tage, zuletzt den Essay „Was ist Gerechtigkeit heute?“. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Berliner Universität der Künste.
Person Von Christian Schüle