Das Ende der Farbe Gelb

Wie die Ostfriesenwitze das Ölzeug peinlich machten

Es war die Zeit, als An den Wänden der Wohngemeinschaften die Poster-Ikonen der APO ihrer Vergänglichkeit entgegengilbten. Marx-Engels-Lenin taten sich unter dem damals berühmten Werbeslogan der Deutschen Bundesbahn zusammen: „Alle reden vom Wetter. Wir nicht“, um den Slogan für die Studentenrebellion zu reklamieren. Vom Wetter wurde tatsächlich nicht gesprochen: Es war die Zeit, in der man sich als Student nur „praktische Sachen“ anzog, ganz unabhängig vom Geschlecht: verwaschene T-Shirts, ausgefranste Jeans, bequeme Turnschuhe, die einen im Demonstrationsfall meilenweit und blasenfrei trugen. Besonders beliebt aber, auch als defensive Kampfkleidung für die Wasserwerfer-Auseinandersetzung mit der Polizei: die weithin sichtbare, kanariengelbe Regenjacke mit Kapuze, das „Ölzeug“.

Eigentlich war diese Regenjacke die Verwirklichung des Kommunismus auf modischem Gebiet: Ich kenne keinen, der sie nicht irgendwann getragen hätte, keinen, der sich die Anschaffung der schreiend gelben Gummijacke nicht hätte leisten können. Und weil die Jacken in jeder Größe sehr geräumig waren, hoben sie die Eigentumsverhältnisse tatsächlich auf: Egal, welche der Jacken man sich an der Wohngemeinschaftsgarderobe griff: Sie paßte immer, irgendwie. Und wenn sie bei der einen bis zu den Waden statt bis zur Mitte der Oberschenkel hing, beim anderen dafür am Hinterteil ein wenig spannte – es störte nicht. Wasser, Wind und Wetter wiesen sie in jedem Fall ab.

Man könnte mich noch heute aus tiefem Schlaf aufwecken und fragen: „Was war damals dein erster Eindruck, wenn du in einer Wohngemeinschaft zu Besuch warst?“ Ich würde, ohne nachzudenken, sagen: „Gelb“. Man klingelte, die Tür ging auf – man kniff die Augen zu vor dieser Masse aus gelben Regenjacken, die an den Garderobenhaken hingen, und hängte die eigene dazu, ohne zu wissen, ob man beim Abschied dieselbe Jacke überziehen würde. Einziger Orientierungspunkt: Oben hingen die Jacken der Erwachsenen – unten die puppenkleinen Kanarien-Jäckchen der Wohngemeinschaftskinder. Davor: ein Bataillon von Gummistiefeln. In allen Größen. Gelb.

Aber ich kann mich noch gut an jenen fürchterlichen Tag erinnern, als meine Tochter in den Taschen ihres gelben Gummijäckchens wühlte – und mit zornroten Backen brüllte: ,,Ein anderes Kind hat meine Jacke mit meinen Legosteinen drin!“ Der Wutanfall der Tochter wurde zum Sündenfall der Eltern: Das Kind bekam die erste „Wendejacke“ in der Geschichte unseres Kinderladens: von außen gelb, wie bei den anderen, doch auf der Innenseite: blau. Die wurde selbstverständlich sofort zur Außenseite.

Von da an gab es auch für die anderen Kinder kein Halten mehr. Und die entnervten Eltern entdeckten zum ersten Mal, was es auf dem Gebiet der Ölzeug-Kindermode alles gab: kariert, gestreift, gepunktet, mit Micky Maus und Schlümpfen drauf. Jedes Kind bekam seine eigene, unverwechselbare Regenjacke und konnte nun selbst entscheiden, ob es mit dem besten Freund die Schlümpfe-Jacke gegen die Punkte-Jacke tauschen wollte. Wir aber, die Erwachsenen, bitter enttäuscht vom Wunsch der Kinder nach „schönen Anziehsachen“, trugen das gummierte Einheitsgelb wie einen stummen Vorwurf neben den Kindern her.

Und würden uns womöglich heute noch in gelbe Gummijacken hüllen, wenn nicht... ja, wenn es nicht die „Ostfriesenwitze“ gegeben hätte, diesen plötzlichen Boom an schadenfrohen Phantasien über einen angeblich geradezu debilen Menschenschlag, der an der Küste lebt, in Wind und Wetter, und deshalb in Gummigelb gekleidet ging. Jetzt aber, im Fieber der „Ostfriesenwitze“, blieb auch unser Ölzeug von Häme nicht verschont. „Na?“, spottete damals eine Freundin, die sich dem Gummizeug verweigert hatte, „wie fühlt man sich denn im Ostfriesennerz?“

Gar nicht gut. Ein ziemlich peinliches Gefühl. Das aber nicht etwa, weil man mit den Ostfriesen in einen Topf geworfen wurde, nein: die Wortschöpfung „Ostfriesennerz“ klang einfach zu idiotisch, es war der Inbegriff des faden, unwitzigen Charakters der „Ostfriesenwitze“. Und wenn man heute die alten Freunde nach den „Ostfriesennerzen“ fragt: Sie werden alle rot, sie wollen die Jacken am liebsten nicht getragen haben – und sie erinnern sich, daß sie, genau wie ich, die Kluft des neuen Namens wegen gleich damals in die Altkleidersammlung gaben.

Im Internet wird sie nun wie eine vom Aussterben bedrohte Spezies behandelt: „Where can I buy yellow oilskin like the ostfriesen-nerz? Can somebody help me?“ – so fragen Internet-Benutzer unter dem Suchwort „Ostfriesennerz“. Wer weiß, vielleicht sind es dieselben, die damals Kinder waren und ihre Eltern zum Kauf karierter Schlümpfe-Jacken gezwungen haben? Jaja, jetzt tut es ihnen leid. Hatten wir das nicht damals schon geahnt?

mare No. 11

No. 11Dezember / Januar 1998

Von Sybille Simon-Zülch

Sybille Simon-Zülch, Jahrgang 1945, lebt als freie Fernseh- und Filmkritikerin in Bremen

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Vita Sybille Simon-Zülch, Jahrgang 1945, lebt als freie Fernseh- und Filmkritikerin in Bremen
Person Von Sybille Simon-Zülch
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