Das Ei, das den Atlantik überquerte

Auch wenn sich die Nachwelt schwertut: Einem Norweger gebührt die Ehre, das erste ge­schlosse­ne Rettungsboot erdacht zu haben

Sie werden an dieser Geschichte mehr Vergnügen haben, wenn Sie jetzt aufstehen, einen Zollstock holen und auf dem Fußboden fünfeinhalb Meter ausmessen. So haben Sie beim Lesen die Länge des Schiffes vor Augen, von dem jetzt die Rede sein wird.

Unser Held heißt Ole Martin Brude. Er kam 1880 in Ålesund zur Welt, einer Hafenstadt an Norwegens Westküste, und wurde, wie damals üblich, mit 16 Schiffsjunge. Zwei Jahre später geriet sein Dampfer bei Neufundland in einen Sturm, eines der Rettungsboote aus Holz zerschellte am Schiffsrumpf. Brude begriff, dass offene Holzboote instabil sind und Schiffbrüchige nicht vor Sturm, Wellen, Kälte oder Hitze schützen können. „Ich lag viele Nächte wach und grübelte darüber, wie ein zuverlässiges Rettungsboot aussehen müsste. Aber ich kam zu keinem Ergebnis.“

Wir wissen, dass er plante, rechnete und zeichnete, aber wir wissen nicht, wodurch ihm die Idee seines Lebens kam: Ein Rettungsboot, das diesen Namen verdiente, musste aus Stahl und rundum geschlossen sein.

1903 gab er seinen Entwurf bei der Aalesunds mekaniske Værksted AS in Auftrag. Im Januar 1904 brannte die Stadt in einer Nacht komplett nieder. Auch Brude wurde obdachlos, aber er ließ sich nicht beirren. Obwohl die Ålesunder jeden Handwerker zum Wiederaufbau brauchten, brachte er die Werft dazu, sein Boot fertigzubauen. Im Frühsommer 1904 lief es vom Stapel: ein rundum geschlossenes Ei aus Stahlplatten, fünfeinhalb Meter lang, an der dicksten Stelle zweieinhalb Meter hoch.

Auf der oberen Hälfte des Eies befanden sich ein Ausguck, zwei enge Einstiegsluken, Mast und Segel. Es hatte ein Ruder und einen Schwenkkiel, der in seichtem Gewässer eingezogen werden konnte, aber weder Motor noch Paddel. Navigiert wurde mit Kompass, Sextant und Seekarten. Auf den 13 Quadratmetern dieses Prototyps sollten nach Brudes Berechnungen bis zu 40 Schiffbrüchige Platz finden.

Nun musste er beweisen, dass seine Erfindung „auf völlig zufriedenstellende Weise manövriert und navigiert“ werden konnte. Er hätte die „Probefahrt“, wie er sie nannte, in den nahen Geirangerfjord oder nach Bergen machen können. Aber er wollte ins amerikanische St. Louis, wo die Weltausstellung und die Olympischen Spiele 1904 stattfanden.

Die französische Regierung und ein reicher Amerikaner hatten eine Million Franc für ein „revolutionär neues Rettungsboot“ ausgelobt. Berücksichtigt wurden nur Boote, die bis zum 23. November – dem letzten Tag der Spiele – vor Ort waren. Brude hatte sich mit seinem Boot angekündigt, man hatte ihm dort sogar einen Platz reserviert. Er war überzeugt, dass er gewinnen würde.

Für die Atlantiküberquerung heuerte er eine dreiköpfige Mannschaft an: Karl Thomas Hagevik Johansen und Lars Madsen, beide Steuerleute wie er selbst, sowie Kapitän Iver Thoresen, der mit seinen 43 Jahren fast der Vater der drei anderen Männer hätte sein können. Warum sie für diese Fahrt anheuerten, ist nicht zweifelsfrei geklärt. Der Name des Schiffes jedenfalls schreckte sie nicht: Brude hatte es „Uræd“ getauft – „Furchtlos“.

Im Sommer 1904 gingen sie, die einander kaum kannten, zum Fotografen. Feierlich blickten sie in die Kamera, in Uniformen mit Goldknöpfen, an den Mützen eine Anstecknadel: das Brude-Ei in einem Rettungsring. Am 27. Juli 1904 verließ die „Uræd“ unter Hurrarufen der Ålesunder den Hafen, auf dem Deck drängten sich die vier und schwenkten ihre Mützen. Acht Stunden später mussten sie umkehren, weil durch die Schweißnähte Wasser eindrang.

Auch wenn die Schuld nicht bei ihnen, sondern bei der Werft lag: Diese Rückkehr muss peinlich und angesichts ihrer Pläne beunruhigend gewesen sein. Erst am 7. August ging es wirklich los. Das war sehr spät im Jahr. Nun würden sie den Nordatlantik nicht nur gegen die Hauptwindrichtung, sondern auch bei schlechtem Herbstwetter überqueren müssen. Brude hoffte, dennoch in drei Monaten in New York zu sein. Von dort sollte es über Binnengewässer bis nach St. Louis gehen.

Leider ist keine Beschreibung der Kajüteneinrichtung überliefert. Es gab natürlich einen Tisch und vier Schlafplätze, und es gab auch eine Toilette, die durch einen Vorhang abgetrennt war. Die Proviantliste umfasst etwas über 50 Posten, darunter 416 Kilogramm Brot, einen halben Zentner Mehl, sieben Zentner Kartoffeln, 100 Kilogramm Butter, einen Zentner Zucker und fünf Kilogramm Kakao. In Tanks wurden 2000 Liter Süßwasser mitgeführt, bei ruhigem Wetter sammelte ein Trichter am Mast Regenwasser. Die Vorräte lagerten in der unteren Bootshälfte, sodass die Männer, trotz der zweieinhalb Meter Durchmesser, vermutlich nicht einmal im Ausguck aufrecht stehen konnten.

Nach vier Tagen näherte sich die „Uræd“ den Shetlandinseln. Fischer hielten das bucklige Ding zunächst für einen Wal, aus dem eine Harpune ragte. An sich hatte Brude schon jetzt die überlegene Seetüchtigkeit seines Rettungsboots bewiesen. Aber er hoffte auf das Preisgeld und auf internationalen Erfolg, und beides gab es nur in den USA.

Als die „Uræd“ am 19. August wieder in See stach, war die komplette Mannschaft an Bord, was zeigt, dass die Männer nicht nur gegen Seekrankheit und Klaustrophobie immun, sondern auch tatsächlich furchtlos waren. Denn nun wurde es wirklich ernst. Das nächste Ziel war Neufundland. Vor ihnen lagen 1966 Seemeilen offenes Meer.

Zwei Wochen später fielen die befürchteten Stürme über sie her. Kapitän Thoresen schrieb in sein Tagebuch: „Die Tage sind so lang, wenn man gezwungen ist, sich zu verbarrikadieren und alles zuzuschrauben, damit das Meerwasser nicht hereinkommt. Jetzt sitzen wir wie Ratten in der Falle.“ Hinzu kam die ständige Angst, von einem großen Schiff übersehen und gerammt zu werden.

Nach zwei weiteren Wochen war die halbe Strecke bis New York zurückgelegt, die Stimmung hellte sich auf. „Heute tummeln sich viele Delfine um das Schiff und bringen Leben und Bewegung. Es ist schön, einmal andere Lebewesen zu sehen als nur uns vier. Heute hatten wir ein gutes Mittagessen, Klippfisch mit geschmolzener Butter und Kartoffeln.“

Das war nur eine Atempause. Die Stürme kehrten mit voller Wucht zurück, am 2. Oktober brach der Mast, und sie konnten von innen nicht erkennen, ob er ganz verloren war. Nachdem sich der Sturm gelegt hatte, kletterten sie an Deck, um den Ersatzmast aus Stahl zu errichten, doch das Schiff krängte, und der kippende Mast fegte Brude ins Meer. Die anderen bekamen ihn im letzten Moment zu fassen und bugsierten ihn durch die enge Luke in die Kajüte, wo sie ihm 100 Tropfen Kampfer einflößten, damals eine Art Allheilmittel.

Thoresen machte in dieser Zeit die erstaunliche Eintragung, sie seien guten Mutes, auch wenn Proviant und Wasser rasch abnähmen, auch wenn Stürme und Gegenwind sie schnell wieder nach Hause trieben. Das war keine Übertreibung. Manchmal fuhr die „Uræd“ ebenso schnell nach Westen, wie der Golfstrom nach Osten floss. Sie stand also immer wieder auf der Stelle, einmal trieb sie bei starkem Gegenwind innerhalb von vier Tagen sogar 300 Seemeilen zurück.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 86. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 86

No. 86Juni / Juli 2011

Von Ebba D. Drolshagen

Die Frankfurter Autorin und Übersetzerin Ebba D. Drolshagen, Jahrgang 1948, war gerade ein Jahr alt, als ihre Familie von Hessen nach Ålesund zog. Auf dem Schoß ihres seefahrenden Großvaters hörte sie zum ersten Mal die Geschichte von Ole Brude.

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Vita Die Frankfurter Autorin und Übersetzerin Ebba D. Drolshagen, Jahrgang 1948, war gerade ein Jahr alt, als ihre Familie von Hessen nach Ålesund zog. Auf dem Schoß ihres seefahrenden Großvaters hörte sie zum ersten Mal die Geschichte von Ole Brude.
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Vita Die Frankfurter Autorin und Übersetzerin Ebba D. Drolshagen, Jahrgang 1948, war gerade ein Jahr alt, als ihre Familie von Hessen nach Ålesund zog. Auf dem Schoß ihres seefahrenden Großvaters hörte sie zum ersten Mal die Geschichte von Ole Brude.
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