Das demokratische Prinzip

Tief verwurzelte Urbedürfnisse der Lebewesen finden ihre Entsprechung auch in den Gesetzmäßigkeiten der unbelebten Materie. Ihr Zusammenspiel ist für die Entfaltung unserer Welt grundlegend.

Ein einsamer Seemann am Steuer seines Schiffes segelt übers stürmische Meer, fern von allem Land. Er beobachtet die geschickt über die Wellen fliegenden Eissturmvögel, die am Himmel ziehenden einzelnen Wolken, und er fühlt sich glücklich und eins mit der Natur. Er hat sich für diese abenteuerliche Seereise freiwillig und ganz bewusst entschieden; er ist frei und kann sein Schiff steuern, wohin er will. Aber ihn plagt dabei dennoch die Sehnsucht nach Nähe zu anderen Menschen. Er spürt bei aller Freiheitsliebe das Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit in einer menschlichen Gemeinschaft, respektiert als gleichberechtigtes Mitglied.

Das Bedürfnis einerseits nach individueller Freiheit und andererseits nach Geborgenheit und Gleichberechtigung in einer Gemeinschaft ist tief im Unterbewusstsein der Menschen verankert, wie es bereits während der Französischen Revolution ausgesprochen wurde: „Liberté, Egalité, Fraternité“. Auch im Artikel eins der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 werden diese Urbedürfnisse der Menschen explizit genannt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“

Tiere besitzen ähnliche Urbedürfnisse wie Menschen, und der für Menschen gültige Artikel eins könnte für Tiere lauten: „Alle wild lebenden Tiere sind frei und gleichberechtigt zu ihren Artgenossen geboren. Sie erfahren und gewähren Schutz und Geborgenheit in ihren jeweiligen Gemeinschaften.“

Tiere haben keine Vernunft, ihr Handeln folgt im Wesentlichen ihren angeborenen Instinkten. Insbesondere haben sie nicht in dem Maß wie Menschen eine Entscheidungsfreiheit, und sie gehorchen den genannten Urbedürfnissen ohne Wahlfreiheit. So fliegen die Eissturmvögel zwar eine Zeitlang ungebunden und scheinbar freiwillig über die weiten Meere, aber in bestimmten Phasen ihres Lebens werden sie instinktiv zum Aufsuchen ihrer Brutplätze und zur gleichberechtigten Besiedelung sowie zur Verteidigung ihrer gemeinschaftlichen Kolonien gezwungen. Ähnliches gilt auch für die Wale, für Wolfsrudel, Insektenstaaten, Bakterienkolonien und auch für Pflanzen, wobei das verwehte Samen­korn dem einzeln herumstreifenden Tier entspricht. Dabei sind die spezifischen Verhaltensweisen mittels der evolutionären Entwicklung für die Befriedigung der genannten Urbedürfnisse jeder Art optimal angepasst, das Überleben des einzelnen Tieres sowie seiner Art wird dadurch sichergestellt.

Diese Urbedürfnisse liegen nicht nur tief im Unterbewusstsein aller Lebewesen, sie zeigen sich auch an den entsprechenden Gesetzmäßigkeiten der unbelebten Materie. Mit einer dem Artikel eins entsprechenden Formulierung lässt sich auch Materie beschreiben: „Alle Materie tritt als freie, ungebundene Einzelteilchen in Erscheinung, welche sich mit anderen Einzelteilchen nach allgemeingültigen physikalisch-chemischen Gesetzen zu ­vorübergehend beständigen Gemeinschaften zusammenschließen können.“

Diese Eigenschaften der Materie sind für die Entfaltung und Entwicklung unserer Welt zwingend erforderlich. Denn die bei der Geburt der Welt vor etwa 15 Milliarden Jahren entstandenen sogenannten Elementarteilchen würden sich ohne diese Eigenschaften der Materie nicht zusammengeschlossen haben, um Atome, Moleküle, Staubpartikel, Planeten und schließlich auch die zum Leben führenden organischen Molekülkonfigurationen aufzubauen. Darüber hinaus bewirkt der immer wieder erfolgende Ausbruch freier Einzelteilchen oder Einzelelemente aus den bestehenden Materialgemeinschaften die Entstehung neuer Gebilde. So setzen sich aus den Elementarteilchen Sauerstoff- und Wasserstoffatome zusammen, die zum Beispiel Wassermoleküle bilden können, die ihrerseits zu Wassertropfen kondensieren und am Himmel möglicherweise zur Bildung von Wolken oder auch zu deren Auflösung führen.

Alle diese Vorgänge laufen zwangsläufig und streng nach physikalisch-chemischen Gesetzen ab. Dabei ist eine naturgegebene Tendenz wirksam: einerseits zur Zunahme der Komplexität, andererseits zur Förderung der Weiterentwicklung durch das Entweichen einzelner freier Teilchen aus der materiellen Gemeinschaft.


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mare No. 119

No. 119Dezember 2016 / Januar 2017

Von Hauke Trinks

Professor Hauke Trinks, 1943-2016, war ­Experimentalphysiker und Präsident der Technischen Universität Hamburg-Harburg und Gründungsrektor des Northern Institute of Technology. Trinks lebte auf der norwegischen Insel Utsira und verbrachte regelmäßig lange Winter im Eis Spitzbergens, wo der Abenteurer Wege zu den Anfängen des Lebens unter den speziellen chemischen Evolutionsabläufen im Meereis erforscht hat.

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Vita Professor Hauke Trinks, 1943-2016, war ­Experimentalphysiker und Präsident der Technischen Universität Hamburg-Harburg und Gründungsrektor des Northern Institute of Technology. Trinks lebte auf der norwegischen Insel Utsira und verbrachte regelmäßig lange Winter im Eis Spitzbergens, wo der Abenteurer Wege zu den Anfängen des Lebens unter den speziellen chemischen Evolutionsabläufen im Meereis erforscht hat.
Person Von Hauke Trinks
Vita Professor Hauke Trinks, 1943-2016, war ­Experimentalphysiker und Präsident der Technischen Universität Hamburg-Harburg und Gründungsrektor des Northern Institute of Technology. Trinks lebte auf der norwegischen Insel Utsira und verbrachte regelmäßig lange Winter im Eis Spitzbergens, wo der Abenteurer Wege zu den Anfängen des Lebens unter den speziellen chemischen Evolutionsabläufen im Meereis erforscht hat.
Person Von Hauke Trinks