Das blaue Wunder

Die in Holz geschnittene Welle des Hokusai schwappte bis nach Europa. Dort hinterließ sie weitreichende Folgen für die Kunst

Der Mann war 36 Jahre alt, als er sich einen neuen Namen zulegte. Nicht etwa, dass dies sein erster Namenswechsel gewesen wäre, er war schon routiniert darin, ein unruhiger Geist mit einem Sinn für die besondere Geste. Bereits das kleine, von einem Spiegelschleifer adoptierte Kind wurde unterschiedlich gerufen, erst hieß es Tokitaro, dann Tetsuzo. Seine ersten Drucke signierte der frisch ausgebildete Porträtgrafiker mit seinem Künstlernamen Shunro, später folgten Zewaisai, Gumbatei und Sori. 1796 war es dann so weit: Zum ersten Mal signierte er ein Werk mit dem Namen, unter dem er berühmt wurde: Hokusai. Katsushika Hokusai.

Die Umbenennung in Hokusai – 20 weitere Namen sollten im Lauf der Jahrzehnte noch folgen – fiel in die Zeit, in der er mit jenem Thema zu experimentieren begann, das ihn zutiefst faszinierte und ihn in Europa zum berühmtesten japanischen Künstler aller Zeiten werden ließ: die Welle.

Er hatte schon einiges hinter sich. Das meiste allerdings lag noch vor ihm; das Zeitverständnis des Meisters des Holzschnitts war ein eigenes, wie sich an einer prominenten Stelle seiner Autobiografie ablesen lässt. „Schon mit sechs Jahren war ich davon besessen, die Form der Dinge zu skizzieren. Nach meinem 50. Lebensjahr machte ich eine Reihe von Grafiken, aber alles, was ich vor meinem 70. produziert habe, ist der Rede nicht wert. Im Alter von 73 lernte ich schließlich etwas über die wahre Natur von Tieren, Insekten, Fischen und über das Wesen der Pflanzen und Bäume. Deshalb werde ich im Alter von 86 wohl mehr und mehr Fortschritte erzielt haben, mit 90 werde ich dann noch tiefer in die Bedeutung der Kunst eingestiegen sein. Im Alter von 100 werde ich einen exzellenten Rang erreicht haben, und mit 110 werden jeder Punkt, jede Linie ein eigenes Leben haben. Ich hoffe nur, dass einige Leute so alt werden, um den Wahrheitsgehalt meiner Worte zu erkennen.“

Er sollte sein Ziel nicht erreichen, Hokusai starb im Alter von 89 Jahren. In der Zwischenzeit hatte er 30 000 Farbholzschnitte, genannt ukiyo-e, „Bilder der fließenden Welt“, geschaffen. Er hatte Dutzende Male die Heimstatt gewechselt, zwei Frauen geheiratet und wieder verloren, drei Kinder großgezogen, breite Anerkennung erfahren und zugleich bitterste Armut erlebt – nicht nur, weil er verschwenderisch war, die Spielschulden seines Enkels bezahlen musste, sondern auch, weil seine beiden Töchter nach gescheiterten Ehen in seinen Haushalt zurückkehrten und vor allem, weil er die Tempo-Krise erlebte, ein wirtschaftliches Desaster, das durch eine korrupte Regierung ausgelöst wurde und eine massive Stadtflucht zur Folge hatte. Das kulturelle Leben in Edo, dem heutigen Tokio, kam zum totalen Stillstand. „Diesen Monat habe ich kein Geld, keine Kleider, kein Essen. Wenn das noch einen Monat so weitergeht, werde ich den Frühling nicht erleben“, schrieb Hokusai an seinen Verleger. Er, der schon alte Mann, wurde Wanderverkäufer seiner eigenen Zeichnungen. Auch nach der Krise blieb er dem Zeichenstift treu.

Seine Bekanntheit verdankte er unterschiedlichen Werken. Zum einen hatte Hokusai Hunderte Erzählungen und Gedichte illustriert, hatte 1814 die ersten Blätter, die japanisches Leben zeigten, zu Bänden zusammengefasst, die er „Manga“ nannte nd diesen Begriff populär machten; auch erotische Darstellungen gehörten zum Repertoire. Zum anderen war er durch die zehn Jahre in Anspruch nehmende Auftragsarbeit „36 Ansichten des Berges Fuji“ einem Kunstpublikum zum Begriff geworden.

Der 3776 Meter hohe Vulkan Fuji liegt im Landesinneren, ist aber an klaren Tagen von dem ehemaligen Fischerdorf Edo aus sichtbar. Die „Große Welle“ ist das herausragende Stück dieser Serie, auch wenn angenommen wird, dass der viel gereiste Meister selbst diese Ansicht nie gesehen hat, womöglich nie auf hoher See war: schäumendes, tobendes Meer, darin verschwindend kleine Fischerboote, ein Motiv, das bei Hokusai immer wiederkehrte, auch in einer weiteren Serie, genannt „Eintausend Bilder der Ozeane“. Ungewöhnlich war es in vielerlei Hinsicht: Fischer, zu Hokusais Zeit sozial unten stehend, waren keine Sujets für japanische Künstler – städtische Szenen, Porträts von Schauspielern und Kurtisanen wurden festgehalten, aber nicht Landschaften und schon gar nicht Menschen in Armut. Aber nicht nur die Sujets unterschieden ihn von vielen seiner Zeitgenossen: Hokusais Arbeiten sind von der westlichen Kunst beeinflusst.


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mare No. 58

No. 58Oktober / November 2006

Von Zora del Buono

Zora del Buono ist stellvertretende Chefredakteurin von mare. Sie ist tagtäglich mit fernöstlicher Ästhetik beschäftigt – beim Bemühen, ihre Bonsai in Form zu halten.

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