Das blaue Wunder

Mit einem Biotrick zaubert der spanische Spitzenkoch Ángel León das magische Leuchten des Meeres auf die Teller seiner Gäste

„Apaga la luz“ – Licht aus!, ruft der Kellner seinem Kollegen zu, und schlagartig ist es im Speisesaal des Restaurants „Aponiente“ stockfinster. Auf dem Tisch vor mir hat der Kellner zuvor ein bauchiges Glas mit einer gelben Flüssigkeit abgestellt – eine kalte Melo- nen­suppe – und winzige getrocknete Krebse hineingestreut. Jetzt höre ich ein leises Klimpern, der Kellner rührt die Suppe um – und plötzlich leuchtet sie blau! Ein über­irdisch schön schillerndes Blau!
Der Kellner reicht mir das Glas und sagt: „Probieren Sie!“ Gespannt nehme ich einen Schluck. Es schmeckt fruchtig-süß und ein wenig salzig. Auf der Zunge ein überraschendes Prickeln, was sich ähn­- lich anfühlt, wie wenn man indonesische Krabbenchips (Krupuk) isst. Kurios ist das auf jeden Fall. Aber kann es sein, dass ich wirklich das Leuchten des Meeres getrunken habe?

Meeresleuchten ist ein Naturschauspiel, das seit Langem bekannt ist. Forscher haben herausgefunden, dass das Phänomen in verschiedenen Varianten auf­tritt. Eine davon ist das Meeresplankton, das aus mikroskopisch kleinen Organismen besteht. Bekannt sind auch die Tief­seeanglerfische, die Licht erzeugen, um damit Beute anzulocken. Andere Lebewesen nutzen das Licht zur Partnersuche oder zur Abschreckung. Der französische Pharmakologe Raphaël Dubois entschlüsselte bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Komponenten für das magische Phänomen, dessen Fachbegriff Biolumineszenz lautet: die Proteine Luciferin und Lucife­rase, ein Enzym. Sie sind an einer chemischen Reaktion beteiligt, bei der Energie in Form von Licht freigesetzt wird.

Die beiden Proteine spielen die Schlüs­selrolle in dem alchemistisch an­mutenden Vorgang, den ich nun im „Apo­niente“ in der Hafenstadt El Puerto de Santa María nahe Cádiz erlebe. Er ist das Ergebnis ­jahrelanger Arbeit von Wissenschaftlern, Lebensmitteltechnikern und Köchen. Das Restaurant, das mit einem eigenen Labor ausgestattet ist, befindet sich in einer ­historischen Gezeitenmühle. Vom großen Speisesaal aus blicken die Gäste durch Bullaugenfenster auf die Salzmarschen am Atlantik – und auf einen Priel, der sich im Rhythmus der Gezeiten mit Wasser füllt und wieder leer läuft. In der gläsernen Küche werkeln die Köche und ihre Assistenten. Alle Zutaten kommen aus der Re­­gion, darauf legt Chef Ángel León wert.

In seinem Restaurant hat er bereits vor Jahren mit Meeresalgen experimentiert, etwa um Algenrisotto herzustellen. Für das Meeresleuchten aber brauchte er einen Organismus, der als Überträger des Lichtes dienen würde. Das Team aus Köchen und Wissenschaftlern entschied sich schließlich für die Gemeine Strandkrabbe (Carcinus maenas), die an den Küsten von Skandinavien bis hinunter nach Nordafrika häufig vorkommt.

„Die kleinen Krebse leben hier in der Bucht von Cádiz“, erklärt der Biologe Juan Martín, der León in ökologischen Fragen berät. „Die Larven gehören zum Zooplankton. In diesem Stadium ernährt sich die Strandkrabbe von Mikroalgen – auch solchen, die leuchten.“ Die Larven und die Algen werden in Aquakultur gehalten, die Larven mit den Algen gefüttert und im Alter von drei Monaten gefriergetrocknet. Die Eiweißkomponenten Luciferin und Luciferase bleiben dabei erhalten. Damit die chemische Reaktion, die das Leuchten er­zeugt, stattfinden kann, müssen die Proteine mit einer Flüssigkeit in Berührung kommen, die nicht heiß sein darf, und darin bewegt werden.

Im Herbst 2016 führte Ángel León sein Experiment Wissenschaftlern der Har­vard-Universität vor, und seit Frühjahr 2017 offeriert er den Extragang „Luz del mar“ – Leuchten des Meeres – auf seiner Speisekarte. Das blaue Licht in der Melonensuppe dauert einige Minuten an, verblasst langsam, wenn die Flüssigkeit einfach nur steht. Doch sobald man sie umrührt, glimmt sie wieder in ihrem außerirdisch scheinenden Blau. Wie winzige Kometen wirken die Leuchtpunkte im Glas, die Krebslarven samt der ihnen innewohnenden Algen. Ein berührend schöner Moment.

Algenrisotto mit Tintenfisch
(leuchtet zwar nicht, schmeckt aber glänzend)

Zutaten (für vier Personen)
800 g Zwiebeln, 400 g ­Sepia, 100 ml trockener Weißwein, 500 g Arborio-reis, 3/4 l Algen- oder Fischfond, Butter, Aiolicreme.

Zubereitung
Klein geschnittene Zwiebeln in Butter glasig dünsten. Tintenfischstücke (etwa 1 cm groß) hinzugeben und köcheln lassen, bis Flüssigkeit verdampft ist. Reis dazugeben, etwas anbraten, mit Weißwein ablöschen. Algen- oder Fischfond nach und nach hinzugeben und umrühren, bis der Reis die gewünschte Konsistenz hat. Vor dem Servieren mit Aiolitupfern garnieren.

Restaurante Aponiente
Molino de Mareas El Caño,
c/Francisco Cossi Ochoa s/n,
El Puerto de Santa María, Cádiz.
+34 956 85 18 70, www.aponiente.com.

Küche täglich geöffnet von 13 bis 13.30 und von 20 bis 20.30 Uhr.
Das Meeresleuchten gibt es als Extragang im Rahmen eines Menüs, für einen Aufpreis von 60 Euro.

mare No. 132

No. 132Februar / März 2019

Von Monika Rößiger und Álvaro Fernández Prieto

Monika Rößiger ist Biologin und war Wissenschaftsredakteurin der Zeitschrift mare. Sie ist Mitverfasserin des Weltatlas der Ozeane. Bei unzähligen Tauchgängen begegnete sie Meeresschildkröten, deren archaische Aura sie stets aufs Neue bannt.

Mehr Informationen
Vita Monika Rößiger ist Biologin und war Wissenschaftsredakteurin der Zeitschrift mare. Sie ist Mitverfasserin des Weltatlas der Ozeane. Bei unzähligen Tauchgängen begegnete sie Meeresschildkröten, deren archaische Aura sie stets aufs Neue bannt.
Person Von Monika Rößiger und Álvaro Fernández Prieto
Vita Monika Rößiger ist Biologin und war Wissenschaftsredakteurin der Zeitschrift mare. Sie ist Mitverfasserin des Weltatlas der Ozeane. Bei unzähligen Tauchgängen begegnete sie Meeresschildkröten, deren archaische Aura sie stets aufs Neue bannt.
Person Von Monika Rößiger und Álvaro Fernández Prieto