Ich falle. Immer tiefer, werde abrupt abgestoppt, nach oben gehoben – und falle wieder. Zwei Stunden geht das so, ich bin nass und friere. Vor allem aber sehe ich nichts. Bei jedem Absturz weiß ich nicht, wann er endet, wann ich wieder abgefangen werde, ahne nur den Moment, erkenne nichts in der Dunkelheit. „Katsou wird intelligent“ schreibe ich in mein Logbuch, denn das Segelboot kämpft sich zuverlässig durch die Wellen, hebt den Bug immer wieder an und stürzt nicht, wie ich irrational befürchte, ins Nichts. Auf dem Weg von Concarneau in der Bretagne zu den Azoren segle ich 1988 mit acht französischen Mitseglern – ohne GPS, nur mit UKW-Funk, Sextant und jugendlichem Vertrauen – über den Atlantik, der sich mit viel Wind und mondlosen Nächten uns entgegenstemmt. Erst wenn morgens die Sonne den Horizont und später den weiten Himmel erhellt, endet der angstvolle Glaube, und die Vernunft übernimmt, die Wellentäler enden ersichtlich.
Nachts auf dem Meer ist alles anders, denn die Dunkelheit ist, außer bei Mondschein, absolut. Himmel und Wasser existieren nicht, nur Schwarz. Als ob man in einem fensterlosen Raum das Licht ausmacht. Nur, dass man dort geschützt steht, während man sich hier schutzlos durchs Wasser bewegt. Zur Furcht vor den Wellentälern (ich muss dabei immer an den Schluss von Dürrenmatts „Der Tunnel“ denken: „Was sollen wir tun?“ – „Nichts, Gott ließ uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu“) gesellen sich Sorgen vor Baumstämmen, Containern oder Walen, die unerkennbar vor dem Bug auftauchen.
Vor den Azoren beruhigen sich Wellen und Wetter, doch die Nächte bleiben weiter mondlos finster. An der Westspitze der Azoreninsel São Jorge steht das Leuchtfeuer Cabeça da Pontinha. Das erste Licht, seit wir Concarneau verlassen hatten – das erste nach 600 Seemeilen –, strahlt kümmerliche acht Seemeilen weit in den Atlantik. Um besser zu sehen, klettere ich nach vorne, zur rauschenden Bugwelle und – zu Weihnachtsbäumen. Vier helle Delfine springen vor unserem Bug, tauchen ein und wirbeln Sauerstoff ins folglich fluoreszierende Plankton Noctiluca. Es umspült sie kurz wie eine weihnachtliche Lichterkette, bevor die Tiefe die Tiere verschluckt, nur um sie gleich wieder auszuspucken. In dieser Nacht sichtete ich kein künstliches Leuchtfeuer, es war, wie ich später erfuhr, in Wartung. Noctiluca scintillans, der biolumineszente Dinoflagellat, bleibt das einzige Licht in all den Nächten.
Nicht ganz, denn plötzlich leuchtet ein einzelner Stern. Einsam steht er hoch am Nachthimmel, schaukelt im Wind, steigt immer höher. Mein Verstand verliert sich mitten auf dem Atlantik, doch dann dämmert es mir. Der Strahl meines Scheinwerfers lässt wenige Meter entfernt ein weißes Segel aufscheinen. Ein anderes Segelboot hier draußen! Ihre Stimme ist hell und freundlich, ihr Boot heißt „Doubblewoubble“, und sie sucht unsere Nähe, hält unsere Topplaterne nicht für einen Stern und möchte ihre Position überprüfen. Minuten nach dem Funkkontakt verschluckt die Nacht den Stern wieder und die allein segelnde Frau. Lange bleibe ich bewegungslos sitzen, fühle mich einsamer denn je.
Die Dunkelheit wird mir erst richtig bewusst, als der Mond eines Nachts am klaren Himmel aufsteigt – begleitet von so vielen Sternen, dass ich ihre mir vertrauten Bilder kaum wiedererkenne. Schedir verschmilzt unten rechts in der Kassiopeia, Deneb ist nicht mehr nur der allein strahlende Punkt am oberen Kreuzende, und Alkor, das „Reiterlein“, grenzt sich klar von Mizar ab, einem Deichselstern des Großen Bären. In früheren Jahrhunderten galt die Unterscheidung dieser beiden Himmelskörper als Voraussetzung für die Eignung im Krähennest, dem Mastkorb, der in Zeiten ohne Radar als Ausguck diente.
Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 173. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.
Beim Segeln nutzt mare-Gründer Nikolaus Gelpke, Jahrgang 1962, längst moderne Seekarten und GPS. „Aber sie nehmen der Dunkelheit ihre Magie“, findet er.
| Lieferstatus | Lieferbar |
|---|---|
| Vita | Beim Segeln nutzt mare-Gründer Nikolaus Gelpke, Jahrgang 1962, längst moderne Seekarten und GPS. „Aber sie nehmen der Dunkelheit ihre Magie“, findet er. |
| Person | Von Nikolaus Gelpke |
| Lieferstatus | Lieferbar |
| Vita | Beim Segeln nutzt mare-Gründer Nikolaus Gelpke, Jahrgang 1962, längst moderne Seekarten und GPS. „Aber sie nehmen der Dunkelheit ihre Magie“, findet er. |
| Person | Von Nikolaus Gelpke |