Danke, Alge!

Der Blaualge Prochlorococcus verdanken wir unsere Existenz. Mit ihrer Fotosynthese schaffte sie Sauerstoff in die Atmosphäre und ins Meer unseres Planeten. So begann alles tierische Leben

Size matters? Nein, nicht immer. Denn die zahlenmäßig häufigste Alge der Erde ist einer der kleinsten und am minimalistischsten lebenden Organismen. Und dennoch hat sie eine überragende Bedeutung für das Ökosystem Meer, ja, wohl für die Entwicklung des Lebens auf unserem Planeten, wie wir es kennen.

Sie allein produziert erstaunliche fünf Prozent des Sauerstoffs, den wir atmen. Sie soll es gewesen sein, die in der Erdgeschichte die für tierisches Leben erforderliche Anreicherung von Sauerstoff in der Atmosphäre und der Tiefsee ermöglichte, die die Basis komplexer mariner Nahrungsketten bildete und so erst die Entstehung eines diversen Tierlebens im Meer erlaubte. So jedenfalls lauten die neuesten Erkenntnisse der Forscher des renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston. Prochlorococcus. Diesen unaussprechlichen Namen gaben sie dem kleinen Fotosynthese betreibenden Bakterium, einem Cyanobakterium, früher als Blaualge bezeichnet. Von der Meeresoberfläche im grellen Sonnenlicht bis in die dämmernden Tiefen von 200 Metern zwischen dem 40. Breitengrad Nord und dem 40. Breitengrad Süd ist es zu Hause.

Vor allem im offenen Ozean, den Meeresforscher wegen der niedrigen Nährsalzkonzentrationen lange Zeit als „nasse Wüste“ betrachteten, bildet es die Nahrungsgrundlage für das marine Ökosystem bis hinunter in die Tiefsee – und erreicht dabei eine Biomasse, die dem Gewicht von 220 Millionen VW Käfern entspricht. Mehr als 100 Millionen von ihnen tummeln sich in einem einzigen Liter Wasser.

Erst Anfang der 1980er-Jahre wandten sich einige Forschergruppen der Erkundung der allerkleinsten Meeresalgen zu, kaum größer als Bakterien und im normalen Lichtmikroskop kaum sichtbar. Neue Techniken wie die Fluoreszenzmikroskopie ermöglichten es nun, diese Kleinstalgen wie rot und gelb leuchtende Sterne gegen ein dunkles Firmament zu zählen.
Zu dieser Gruppe der Kleinstalgenjäger gehörte auch Sallie Chisholm. 1976 war sie Professorin in der Abteilung Bauingenieurwesen am MIT in Boston geworden, das sich seinerzeit mehr „umweltorientiert“ geben wollte.

„Es war wie ein großes Puzzle, und wir hatten einfach das Glück, dass alle Teile immer wieder zusammenpassten.“ So beschreibt Chisholm die Entdeckung von Prochlorococcus, die das Verständnis der Ökologie des offenen Ozeans grundlegend veränderte. Und die Chisholms Karriere prägte, die sie aber nie als die „ihre“ betrachtete. Die bei aller Intellektualität immer bescheidene Frau wird nicht müde zu beteuern, dass ihre Mitarbeiter doch viel mehr dazu beigetragen hätten. „Und es war ein ganz besonders glücklicher Zufall, Rob Olson als ersten Nachwuchswissenschaftler in meinem Labor zu haben.“ So beschreibt sie den ersten Puzzlestein auf dem Weg zum Erfolg.

Olson war ein Tüftler am Durchflusszytometer. Dieses neuartige Gerät aus der Medizintechnik, das kleine Blutkörperchen im Blut per Fluoreszenz zählen kann, sollte, so dachten Olson und eine Handvoll anderer Pioniere, auch kleinste Algen im Wasser anhand der Chlorophyllfluoreszenz erkennen können. Dies stellte sich nicht nur als wahr heraus. Das Gerät konnte sogar solch schwache Fluoreszenz erkennen, die dem menschlichen Auge im Fluoreszenzmikroskop verborgen blieb.

1985 gelang es Olson erstmals, Signale aus dem elektronischen Rauschen des Durchflusszytometers herauszufiltern, die auf eine neue Gruppe kleinster Algen hinwies, noch deutlich kleiner als die 1979 entdeckten Cyanobakterien des Typs Synechococcus, die mittlerweile gut bekannt waren. Diese Signale tauchten nun überall in tropischen Ozeanen auf, die er beprobte: vor Hawaii, im Pazifischen Ozean, vor Bermuda, in der Sargassosee, ja, sogar unverhofft am Strand von Neapel während einer Fachkonferenz, auf der nur kurz jenes Zytometer vorgeführt werden sollte und schnell eine Wasserprobe gebraucht wurde. Der Fund überraschte die Teilnehmer, glaubten die Experten bis dahin doch, diese Kleinstalgen würden nur im offenen Ozean vorkommen. Heute weiß man, dass sie alle warmen Meeresgewässer dominieren.

„Wir wussten nun, da war etwas, aber wir konnten es nicht weiter charakterisieren“, so Chisholm. Denn in den angesetzten Kulturen wuchs zunächst gar nichts. „Ein weiterer Zufall, der uns zu Hilfe kam, war die Bekanntschaft mit Ralf Goericke.“

Goericke, seinerzeit Nachwuchswissenschaftler in Chemie an der Harvard University, befasste sich mit der Analyse von Pflanzenpigmenten. In Chisholms Ozeanproben fand er nicht nur das erwartete Chlorophyll und andere Algenpigmente. Er entdeckte eine spezielle Variante des Chlorophylls, das Divinylchlorophyll, bis dahin nur von der symbiontischen Cyanobakterie Prochloron aus in Korallenriffen heimischen Seescheiden und der kettenbildenden Blaualge Prochlorothrix bekannt.

Aus dieser Ähnlichkeit leiteten die Forscher den Namen Prochlorococcus ab. Erst Jahre später, nach dem Einzug der DNA-Analyse in die Meeresforschung, sollten sie erkennen, dass Prochlorococcus mit den anderen beiden Arten nicht näher verwandt ist. Dennoch: „Die ungewöhnlichen Pigmentanalysen waren der zweite Puzzlestein, der uns sagte, dass wir einer neuen, extrem kleinen, aber sehr häufigen Algenart auf der Spur waren“, erinnert sich Chisholm. Hinzu kamen elektronenmikroskopische Bilder eines Kollegen von der Woods Hole Oceanographic Institution. Und dann, endlich, der erste Erfolg einer Algenkultur aus der Sargassosee südlich von Bermuda im Jahr 1988.

Seither lässt sich Chisholm regelmäßig Wasser aus der Sargassosee nach Boston schicken. Dieses an Nährsalzen und gelösten Metallen arme Meerwasser erscheint ideal zur Kultur des Minimalisten Prochlorococcus. Heute blubbern zahlreiche aus den unterschiedlichsten Regionen der Weltmeere isolierte grünliche und gelbliche Kulturen bei 23 Grad und reguliertem Dämmerlicht in den Kulturkammern des MIT. Diese Kulturen ermöglichten erst den wirklichen Einblick in die Vielfalt und die ungeahnten Fähigkeiten dieser Minifotosynthesefabriken, bei denen alles auf das unbedingt Notwendige reduziert ist.

Die isolierten Kulturen machten klar: Auch wenn all diese Organismen zur Art Prochlorococcus gehören, so repräsentieren sie doch deutlich abgegrenzte „Ökotypen“, dezidiert angepasst an die Nische, die sie im weiten Meer besiedeln. Es gibt fünf durch Anpassung an bestimmte Kombinationen von Temperatur, Licht, und Nährsalzkonzentration charakterisierte Gruppen. Diese sind im Ozean getrennt durch ihre Tiefenposition in der Wassersäule; sie spiegeln quasi fünf verschiedene Stockwerke in den oberen 200 Metern der Weltmeere wider.
Die nötigen Forschungsgelder für die Arbeit mit dieser neuen Spezies zu bekommen war selbst für die Professorin des berühmten MIT anfangs nicht einfach. Viel Skepsis schlug ihr, der jungen Wissenschaftlerin in einem noch sehr von älteren Herren dominierten Umfeld, entgegen. Ob denn diese neue Entdeckung wirklich das Geld wert sei?


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mare No. 139

mare No. 139April / Mai 2020

Von Frank Jochem

Frank J. Jochem, Jahrgang 1961, promovierter Meeresbiologe und Autor in Florida, USA, erforschte selbst jahrelang die Verbreitung und Bedeutung von Prochlorococcus im Atlantik, Indischen Ozean und Karibischen Meer. Aus dieser Zeit kennen er und Chisholm sich persönlich. Zum ersten Mal stieß er 1987 im Indik auf Prochlorococcus. In langen, dunklen Stunden zählte er kleine rote Leuchtpunkte unter dem Fluoreszenzmikroskop und fragte sich, was diese waren. Erst ein Jahr später berichtete Chisholm über ihre Funde und lüftete so das Geheimnis. Seit zwölf Jahren widmet sich Jochem als Entrepreneur dem Aufbau von Start-up-Firmen in Algenaquakultur und Wasserwirtschaft. Jochem war Gründungsmitglied der Zeitschrift mare und dort für mehrere Jahre Wissenschaftsredakteur.

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Vita Frank J. Jochem, Jahrgang 1961, promovierter Meeresbiologe und Autor in Florida, USA, erforschte selbst jahrelang die Verbreitung und Bedeutung von Prochlorococcus im Atlantik, Indischen Ozean und Karibischen Meer. Aus dieser Zeit kennen er und Chisholm sich persönlich. Zum ersten Mal stieß er 1987 im Indik auf Prochlorococcus. In langen, dunklen Stunden zählte er kleine rote Leuchtpunkte unter dem Fluoreszenzmikroskop und fragte sich, was diese waren. Erst ein Jahr später berichtete Chisholm über ihre Funde und lüftete so das Geheimnis. Seit zwölf Jahren widmet sich Jochem als Entrepreneur dem Aufbau von Start-up-Firmen in Algenaquakultur und Wasserwirtschaft. Jochem war Gründungsmitglied der Zeitschrift mare und dort für mehrere Jahre Wissenschaftsredakteur.
Person Von Frank Jochem
Vita Frank J. Jochem, Jahrgang 1961, promovierter Meeresbiologe und Autor in Florida, USA, erforschte selbst jahrelang die Verbreitung und Bedeutung von Prochlorococcus im Atlantik, Indischen Ozean und Karibischen Meer. Aus dieser Zeit kennen er und Chisholm sich persönlich. Zum ersten Mal stieß er 1987 im Indik auf Prochlorococcus. In langen, dunklen Stunden zählte er kleine rote Leuchtpunkte unter dem Fluoreszenzmikroskop und fragte sich, was diese waren. Erst ein Jahr später berichtete Chisholm über ihre Funde und lüftete so das Geheimnis. Seit zwölf Jahren widmet sich Jochem als Entrepreneur dem Aufbau von Start-up-Firmen in Algenaquakultur und Wasserwirtschaft. Jochem war Gründungsmitglied der Zeitschrift mare und dort für mehrere Jahre Wissenschaftsredakteur.
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