Dänemarks höchster Gipfel

Der Große Belt wird bald von der zweitgrößten Hängebrücke der Welt überspannt

Im Maschinenraum, tief unter dem Meeresspiegel, zittert der Boden, stampfen die Kolben, die Kurbelwellen, die Pleuelstangen. Peder Jeerup Pedensen faltet die Hände zu einem Trichter – vergeblich, man hört ihn nicht. Erst als er wieder zwei Stockwerke hinauf gestiegen ist, kann er gegen das Tosen an: „Ich liebe dieses Schiff!“ Seit 1962 pendelt die „Sprogo“ zwischen den dänischen Inseln Seeland und Fünen. Zehnmal am Tag schnauft sie dieselbe Strecke im großen Belt, 18 Kilometer hin, 18 Kilometer zurück, immer den müde torkelnden Bojen entlang. Vorne schluckt die „Sprogo“ bis zu 150 Autos und Lastzüge, hinten gibt sie sie wieder von sich – „Roll-on-Roll-off“ , so heißt’s in der Branche. Im Bordrestaurant (orange Plastikwannen als Sitzgelegenheiten) wüten derzeit die australischen Wochen.

„Abgesehen von Australien war ich schon überall.“ Die Wehmut nagt an Pedensen. Er ist ein weit gereister Mann, der mit 15 Jahren mehr gesehen hatte als die meisten Städter aus Kopenhagen, obwohl er nur aus einem winzigen Dorf an der Küste von Fünen stammt. „Bei uns war jeder Seemann.“ Seit einigen Jahren aber sind Pedensens Ozeane auf die 18 Kilometer in der Meerenge der Ostsee geschrumpft. Die große Handelsreederei, auf deren Lohnliste er lange stand, ging pleite, und die großen Schiffsbesatzungen von einst sind einem halben Dutzend philippinischer oder portugiesischer Hilfsarbeiter gewichen. Eine letzte Zuflucht bot die Fähre im Großen Belt – bis das Monstrum vor Pedensens Bug erschien.

Die Angst der Seeleute davor ist alt. Dass ein furchterregendes Meeresungeheuer im Belt mühelos selbst stolzeste Schiffe zum Kentern bringen kann, wussten bereits im 14. Jahrhundert die Mönche von Roskilde. Sie versuchten, das Ungetüm mit Reliquien und Opfergaben auf dem Meeresgrund zu halten. Offensichtlich aber lässt die Wirkung der mittelalterlichen Bannsprüche im 20. Jahrhundert nach. „Du kannst es nicht aufhalten“, resigniert Pedensen und zeigt auf das 259 Meter hohe Ungetüm, auf den sogenannten Fortschritt, die größte Brücke Europas, die zweitgrößte Hängebrücke der Welt, die aus seinem Schiff in wenigen Monaten ein Wrack und 2600 Fährleute arbeitslos machen wird.

Hoch über der „Sprogo“, auf der der Kapitän, der noch nie in Australien gewesen ist, seiner Frühpensionierung entgegentuckert, hebt Lizzi Tvede Rugolo beschwörend die Arme. „Es ist kein Monster, es ist zauberhaft, es ist eine wirkliche Schönheit!“ Mit rotem Bauhelm rattert die Öffentlichkeitsarbeiterin des internationalen Montagekonsortiums „Coinfra“ im Gitterkorb einen Betonpfeiler empor, der nur knapp unter dem grauen Wolkenhimmel endet. Für sie ist die Straßen- und Zugverbindung über den Großen Belt ein wahrgewordener dänischer Traum. Eine Vision, die in den letzten 200 Jahren dänischer Geschichte immer wieder leuchtete: zum Beispiel 1855, als die Franzosen wieder einmal mit einem Tunnel unter dem Kanal liebäugelten, schlug in Kopenhagen Kriegsminister Tscherning den Brückenschlag vor. 1937, als die Amerikaner die Golden-Gate-Bridge für die vieltausendmotorige Ford-Flotte freigaben, rief die dänische Regierung eine staatliche Planungsgruppe zusammen, die bald schon zum ersten Spatenstich lud und nur vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs davon abgebracht werden konnte. Im Mai 1987 kam endlich nichts mehr dazwischen.

Rugolo hat in ihrem laut knackenden Fahrstuhl erst die halbe Höhe des Pylons erreicht, als sie mit der Historie die hitzige Folketing-Debatte streift, die den spektakulärsten Brückenbau Europas schließlich besiegelte. Kostenpunkt: acht Milliarden Mark. Nur ein Baumeister kann sich heute solchen Aufwand leisten: die Globalisierung. Das Meer, früher als schnelles Transportmedium begehrt und in blutigen Kriegen umfochten, wird den Ansprüchen der Moderne nicht mehr gerecht. Welcher Autofahrer, welcher Zuggast kann es sich noch leisten, auf der Fähre den Möwen eine ganze Stunde beim Turteln zuzuschauen? Jedenfalls nicht die Unternehmer! Die Industriellen! Die Kaufleute! Mit den Brückentürmen sollen Dänemarks Wirtschaftskurven in ungeahnte Höhen wachsen. Anderthalb Stunden Zeitersparnis gegenüber Pedensens Fähre! „Dank dieser Brücke“, geriet nach dem Baubeschluss Verkehrsminister Knud Östergaard außer sich, „bekommen die Kopenhagener endlich frische Milch aus Jütland auf den Frühstückstisch!“ Je nach Geschmack auch Molkereiprodukte aus den schwedischen Schonen. Der zweite Teil der Brücke, der um das Jahr 2000 fertiggestellt werden soll, führt über den Øresund von Kopenhagen ins Nachbarland. Dort sind 17 Kilometer Meer zu überqueren. Irgendwann nach der Jahrtausendwende soll ein weiteres gigantisches Viadukt aus der Ostsee wachsen, diesmal im Fehmarnsund, hinüber zum deutschen Puttgarden.

Nach sieben Minuten Fahrt klappert der Aufzug, die Tür springt auf, und Rugolo setzt ihren Fuß auf Dänemarks höchsten Gipfel. 259 Meter ragen die beiden Türme der Hängebrücke aus dem Großen Belt – für ein Land, in dem sich der höchste Wasserfall aus der schwindelerregenden Höhe von 1,22 Meter stürzt, eine schon fast traumatische Erscheinung. „Die Dänen müssen lernen, mit diesem Projekt umzugehen.“ Alle sechs Monate, berichtet die Brückensprecherin, werden die Bewohner der 484 dänischen Inseln von Meinungsforschern befragt. Anfangs hätten sich zwei Drittel gegen, ein Drittel für die Landverbindung ausgesprochen. Heute, nach neun Jahren Bauzeit, hätten sich die Verhältnisse umgekehrt.

Mittlerweile liegt ein Lindwurm ausgestreckt im Großen Belt, der flache, weit geschwungene Bogen der Westbrücke, dessen Ende mit dem Horizont verschmilzt, der am Strand von Nyborg ins Wasser geht und nach 62 Betonpfeilern und einer Strecke von 6,6 Kilometern mit der kleinen Insel Sprogo wieder festes Land erreicht. Die eine Hälfte des Baus ist für eine vierspurige Autobahn reserviert, über die andere rasselt seit vergangenem Juni zweigleisig der Zugverkehr. Auf Sprogo trennen sich ihre Wege. Die Züge graben sich tief in das Eiland ein und verschwinden schließlich in zwei acht Kilometer langen Unterwasserstollen – nach der Channel-Röhre die längsten Europas. Die Straße hingegen wird von einer Erdrampe zunächst auf eine Höhe von 25 Metern gehoben, wenig später von den Brückentürmen auf 65 Meter.


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mare No. 5

No. 5Dezember / Januar 1997

Von Wolfgang Bauer und Andreas Lobe

Wolfgang Bauer, in Hamburg geboren, widmet sich auch als freier Mitarbeiter des Schwäbischen Tageblatts heute noch Themen des Meeres.

Andreas Lobe ist Mitglied der Atomic Photographers Guilde

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