Couch mit Meeresblick

Was uns Träume über Wellen und ozeanische Tiefen sagen

Der Ozean mit seinen rhythmischen Wogen zieht den Blick des Menschen wie magisch an. Die sich stetig wandelnden Formen der Wellen entspannen und fördern die Fantasie. Kein Wunder, dass Bilder des Meeres in der Psychologie beliebt sind – vor allem in der Hypnotherapie zur Stressbekämpfung. „Das sich gleichmäßig bewegende Meer ist ein Reiz, der innere Ruhe herstellen kann und somit Stressreaktionen entgegenwirkt“, erklärt Thorsten Ehrhardt von der Psychiatrischen Universitätsklinik München.

Schickt der Psychotherapeut seine Patienten auf Gedankenreisen, so spricht er gern vom Wasser, dem Glitzern, dem Geruch, dem Blau. Redet von Entspannung am Meer, von Weite: Alles öffnet sich, man kann tief durchatmen ... der Wind berührt die Haut ... und die Ruhe des stillen Meeres geht auf die Patienten über. Während eines imaginären Tauchgangs im Riff kreuzen riesige Schildkröten schwebend den Weg. Langsam, sehr langsam paddeln sie mit ihren Flossenfüßen inmitten bunt schillernder Fische. In solchen Momenten kehren sich die Sinne nach innen; die Patienten suchen nach Bildern in sich selbst. Der bequeme Praxis-Sessel wird zum Strand, das innere Auge sieht Meeresblau, man meint sogar, das Salzwasser zu riechen und eine erfrischende Brise zu spüren.

Nicht jeden Menschen allerdings locken solche Meeresfantasien ins Nirwana. Auf manche wirkt der Gedanke an Endlosigkeit und Tiefe der Ozeane abschreckend. Bevor Ehrhardt seine Patienten mit auf die sieben Weltmeere nimmt, muss er deshalb ihre Vorlieben genau kennen. Etliche möchten auch unter Hypnose lieber „festen Boden“ unter den Füßen behalten und bevorzugen eine Gedankenreise auf eine Blumenwiese oder ins Gebirge. Aus diesen Präferenzen leitet die Psychologie sogar unterschiedliche Charaktere des Menschen ab. „Bergtypen“ etwa nennt der Psychologe die eher selbstkontrollierten und leistungsorientierten Patienten. Auch in Gedanken müssen sie offenbar den nächsten Berg erklimmen.

Der „Meerestyp“ hingegen lässt sich leichter gehen und treiben, gibt sich bereitwilliger seinem Unterbewussten hin, das bei Tagträumen am Meer sehr leicht ins Bewusstsein dringt. Sogar in der Wahl des Ozeans sehen die Psychologen Hinweise auf die Mentalität. Wer ans Mittelmeer fährt, sucht vor allem Wärme, Sonne, Vergnügen und Geselligkeit. Fans von Nord- und Ostsee dagegen schätzen eher die kühle Weite und Einsamkeit, erholen sich besser im rauhen Klima und wenn der Wind ihnen den Kopf freibläst.

In Träumen tauchen Szenen mit Meeresinhalten seit jeher auf. Was sie wohl zu bedeuten haben, damit befassten sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Über-väter der Psychologie, Sigmund Freud und Carl Gustav Jung. Im Februar 1929 etwa erzählte C.G.Jung seinen Seminar-Schülern vom Traum eines Patienten, der seinen Ischias bei einem „Heiligen“ kurieren wollte. Um dessen Kraft zu nutzen, glaubte der Träumende, ein Bad im Meer nehmen zu müssen: „Zwischen den Felsen und den felsigen Anhöhen liegt ein Tal, eine Art Bucht. Das Meer dringt in gleichmäßigen starken Brechern in diese ziemlich tief in das Land einschneidende Bucht ein. Eine Weile schaue ich der majestätischen Brandung und der vordringenden Flut zu. Als ich über der Anhöhe von der anderen Seite Gischt hochspritzen sehe, da habe ich Angst, dass die Dünung auf der anderen Seite so mächtig sein könnte, dass sie den Hügel wegschwemmt, der nicht aus gewachsenem Felsen, sondern aus aufgehäuftem Schotter und einzelnen Findlingen besteht.“

Träume wie diese, dozierte Psychoanalytiker Jung, entlarven die universalen Zusammenhänge von Meer und Psyche. Das Meer sei der „Mutterschoß der Natur“. Die Evolution begann im Ozean, der erste Keim des Lebens ist dort entstanden. Jung proklamierte Parallelen zwischen dem Unbewussten des Menschen und den majestätisch einrollenden Brechern: Es „entsendet mächtige Wellen mit fast genauer Regelmäßigkeit in unser Bewusstsein“. Oft, resümiert der Schweizer Psycho-Pionier, benutzten Patienten Bilder, wonach das Bewusstsein eine Art Bucht im „Meer“ des Unterbewusstseins bilde. Die überragende Kraft von Meer und Unbewusstem wird offenbar: „Aus dem Wasser, sprich dem Unbewussten, kommt alles“, sagt Dieter Schnocks, Vorsitzender der C.G.Jung-Gesellschaft in Köln – auch die Ursachen für Missstimmungen der Seele und Störungen des Bewusstseins.

Um sie zu besiegen, sei im Zuge der Psychotherapie das Abtauchen in die Tiefen des Meeres unausweichlich. Nur dort unten finde sich der Schlüssel zur Heilung, wenn die verdrängten Inhalte mit den Methoden der Traumdeutung oder der freien Assoziation gehoben und durchgearbeitet werden. Doch wer in die von Meeresbildern symbolisierten Abgründe des Unbewussten taucht, muss sich – darauf weist C.G.Jung ausdrücklich hin – auf die Gefahren der seelischen Tiefsee gefasst machen. Nötige Tauchausrüstung ist tiefenpsychologische Kenntnis oder Unterstützung, um geläutert ins Licht der bewussten Welt zurückkehren zu können.


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mare No. 19

No. 19April / Mai 2000

Von Klaus Wilhelm

Klaus Wilhelm lebt als freier Wissenschaftsjournalist in Berlin. In mare No. 17 beschrieb er die Überlebenstechniken des Atlantiküberquerers Hannes Lindemann

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Vita Klaus Wilhelm lebt als freier Wissenschaftsjournalist in Berlin. In mare No. 17 beschrieb er die Überlebenstechniken des Atlantiküberquerers Hannes Lindemann
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