Connemara revisited

Irlands rauer Westen, umspült von einem gnadenlosen Meer, zog anfangs des 20. Jahrhunderts Dichter und Intellektuelle an. Hier hofften sie dem bourgeoisen Kulturbetrieb der Großstädte zu entkommen

Ein Poet und ein Philosoph suchen die Einsamkeit, das Raue, die Armseligkeit Connemaras, sie suchen in der Schönheit der harschen Landschaft, in der Härte des Klimas, der Schroffheit der Küsten, den Untiefen der Moore das zu vollenden, was sie in der Annehmlichkeit ihrer Universitäten, in der Behaglichkeit ihrer bürgerlichen Habitate nicht zu ernten vermochten. Sie mieten sich ein – zeitversetzt um einige Jahre, jeder für sich – im Rosroe Cottage am Killary Harbour, eine heruntergekommene Hafenmeisterkeusche. Der Ire Richard Murphy ist der Dichter, der Österreicher Ludwig Wittgenstein der Philosoph. Beide suchen sie das Glück der Suchenden.

Connemara, der Küstenstreifen an der Westküste Irlands im County Galway, gibt kaum mehr her als Felsen, Sümpfe und braune, moorige Bäche. Meist ist es grau, regenverhangen, düster. Seine Bewohner sind Armut und Unbilden ausgesetzt. Doch bei richtigem Licht, in jenen Augenblicken, wenn sich weder Sonne noch aufkommender Sturm durchgesetzt haben, in Farben getaucht, lässt das Land Ludwig Wittgenstein ausrufen: „Die Farben dieser Landschaft sind fabelhaft, sogar das Straßenpflaster ist bunt.“ Und Richard Murphy findet: „Rosroe ist einer der windumtostesten, regenreichsten und ärmsten Orte in ganz Irland“, aber zugleich ist es ihm „der schönste aller erfreulichen Orte“.

Die Küste ist bedeckt von granitenen Felsskeletten, mit unzähligen Arten Flechten, Moosen, Orchideen und Erikaarten durchsetzt, Moore und Sümpfe schillern in schönsten Rembrandtfarben, ein wildes Meer, die Küstenfelsen hinaufzüngelnd, Brandung, die wie Geysire und Tsunamis antanzt, feinsandige Strände, an denen nur Menschen von russischer Nonchalance ins Meer springen würden. Doch dieses Meer gibt auch genug Fisch preis für die Dorfbevölkerung, dazu Krustentiere, Muscheln und Tang, alles von herrlicher Güte, doch auch belastet von Trauer.

Bis heute ist das „Cleggan Bay Disaster“ die Metapher für ein Meerestrauma. Ein Hurrikan überrollte 1927 die Küste und bereitete nahezu 70 Fischern ein kaltes Grab. Er zerstörte auch die Lebensgrundlage vieler Familien; der Ort Rossadilisk etwa wurde von den Hinterbliebenen aufgegeben. Über Jahrzehnte fanden sich keine Männer mehr bereit, den Fischerberuf auszuüben. Unzählige junge Iren verließen die Gegend, wanderten nach England, in die USA, nach Australien und Neuseeland aus. Lange hing man der Weissagung an, das Meer werde sich erst wieder beruhigen, wenn es die letzten Ertrunkenen freigegeben habe.

Vor der Wildheit des Meeres an dieser Küste hatten schon Generationen von Fischern größte Achtung, so sehr, dass es unter ihnen zum Brauch wurde, nie schwimmen zu lernen, denn es sei besser, gleich unterzugehen, als dem Meer durch Kampf trotzen zu wollen, ein Kampf, der nicht zu gewinnen ist.

Was also trieb die beiden, aber auch andere wie W. B. Yeats, Oscar Wilde, John Millington Synge, Ted Hughes und Sylvia Plath, Theodore Roethke und Robert Lowell, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in diese zuweilen schöne, im Grunde aber unwirtliche Gegend? Dort Ansässige wie Walter Macken und John McGahern hatten bereits eindrucksvolle Schilderungen aus diesem gnadenvoll gnadenlosen Landstrich gegeben, wo, je nachdem, wie Sonne und Wolken zueinanderfinden, das Meer und die Winde grausam schöne Spiele projizieren.

In Connemara begegnet man jener eigenartigen, nicht seltenen Dichotomie zwischen Einheimischen, die dem Land ein dürftiges Leben abringen, und Intellektuellen, die gerade jenes suchen und das Leben dort zu Romantik hochpreisen, ein Leben, dem so viele der dort Lebenden entfliehen wollen.

Der Philosoph Wittgenstein trachtete schon immer nach dem „einfachen Leben“. Er verdingte sich zunächst als Dorfschullehrer im tiefsten Niederösterreich, verschenkte sein Erbe und lebte in einer Hütte in Norwegens Wäldern. Bis er Connemara entdeckte für sein Verlangen nach Einsiedelei. Richard Murphy, in eine noble britisch-koloniale Familie geboren, wollte sich von Familie, Oxford und englischer Tradition emanzipieren und ergründete seine irischen Wurzeln. Er erkundete in der Einsamkeit die Poesie des Meeres, versuchte der Küste, den Fischern und Bauern die Geheimnisse der Wildnis zu entlocken und nahm, was er für seine Dichtung zu fassen bekam.

Während die Einheimischen gerade genug zum Überleben erwirtschaften, kamen Künstler und Schriftsteller, um dem Land zu entreißen, was es dem Geist zu bieten hat, und konnten sich mitunter sogar einen Lebensunterhalt aus der Kargheit erackern.


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mare No. 124

No.124Oktober / November 2017

Von Frank Tichy

Frank Tichy, geboren 1939, Professor an der Pädagogischen Hochschule Salzburg, ist seit 1995 freier Autor. Er bereiste die USA, England, Irland, China und Guatemala, schrieb Bücher über China, Guatemala und Biografien österreichischer Poeten. Er kommt zwar aus den Bergen, aber es zieht ihn an die Küsten. Er findet: Je wilder das Meer, desto besser. Daher auch die Liebe zu Connemara und seinen Dichtern.

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Vita Frank Tichy, geboren 1939, Professor an der Pädagogischen Hochschule Salzburg, ist seit 1995 freier Autor. Er bereiste die USA, England, Irland, China und Guatemala, schrieb Bücher über China, Guatemala und Biografien österreichischer Poeten. Er kommt zwar aus den Bergen, aber es zieht ihn an die Küsten. Er findet: Je wilder das Meer, desto besser. Daher auch die Liebe zu Connemara und seinen Dichtern.
Person Von Frank Tichy
Vita Frank Tichy, geboren 1939, Professor an der Pädagogischen Hochschule Salzburg, ist seit 1995 freier Autor. Er bereiste die USA, England, Irland, China und Guatemala, schrieb Bücher über China, Guatemala und Biografien österreichischer Poeten. Er kommt zwar aus den Bergen, aber es zieht ihn an die Küsten. Er findet: Je wilder das Meer, desto besser. Daher auch die Liebe zu Connemara und seinen Dichtern.
Person Von Frank Tichy